Ein Kriegstag im Donbass

„Die Ukraine gehört uns, und wir werden hier sterben“

Holzkreuze liegen für Begräbnisse nicht infizierter Soldaten in der Stadt Starobilsk bereit (Archivbild).

Holzkreuze liegen für Begräbnisse nicht infizierter Soldaten in der Stadt Starobilsk bereit (Archivbild).

Pokrowsk. Bürgermeister Ruslan Trebuschkin ist der Letzte, der etwas Erde auf den geschlossenen Sarg im Soldatengrab wirft. Nach ihm ist der Totengräber an der Reihe. Trebuschkin tröstet die Mutter, die schluchzt: „Mein Sohn, warum hast du mich verlassen?“ – und fragt sich, wie viel von dem Körper des Mannes im Sarg noch übrig ist und wie viel der Krieg fortgerissen hat.

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Es ist der Morgen des 142. Tages im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und das zehnte Militärbegräbnis in Pokrowsk seit Beginn der Invasion im Februar. Anfangs seien solche Beerdigungen im Fernsehen übertragen worden, um den Getöteten Anerkennung zu zollen, sagt Bürgermeister Trebuschkin. Doch dann hätten die Familien und das Rekrutierungsbüro gebeten, damit aufzuhören. Es sei einfach zu viel geworden.

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Einer der letzten, der geht

Pokrowsk ist eine der verwaisenden Städte in der Region Donezk, die den Krieg täglich erleben. Da gibt es den offensichtlichen Kampf mit Panzern, die Sanitätsautos auf den Landstraßen und Qualm über den Sonnenblumenfeldern. Und dann gibt es die inneren Kämpfe, die persönlichen Schlachten. Trebuschkin ringt mit seiner Verantwortung - auch als er ein paar Rosen auf das Grab legt.

Er muss sich bereithalten, falls das Militär befiehlt, die verbliebenen Einwohnerinnen und Einwohner aus der Stadt zu bringen. Als Bürgermeister wäre er einer der Letzten, die gehen. Die Front kommt näher, die Unsicherheit zerrt an den Nerven. Der Aufruhr, über den sich im Augenblick wohl die wenigsten Einwohner Gedanken machen, könnte nächste Woche ausbrechen, im August, im September. „Hängt davon ab, wie sich die Front bewegt“, sagt Trebuschkin. Er trägt Sneaker und Jacke und ist ruhig.

Am Mittag des 142. Kriegstages in der Ukraine geht die Koordinatorin für humanitäre Hilfe in der Stadt Selydowe im hallenden Kulturpalast aus der Sowjetzeit auf und ab. Zahlreiche Einwohner holen sich Lebensmittelrationen in Plastiktüten ab. Die Hilfen hätten Tausende Menschen versorgt, sagt Sitta Topilina. Unter ihnen seien viele, die aus Gebieten geflohen sind, die russische Truppen erobert haben, etwa aus der Hafenstadt Mariupol. Deren Berichte seien so schrecklich gewesen, dass sie Leuten mit Sympathien für Russland wohl die letzten Illusionen geraubt hätten, sagt Topilina.

Sie ist eine von Tausenden Menschen aus Donezk, die von den Behörden aufgefordert worden sind, zu fliehen, so lange das noch möglich sei. Aber Topilina hat keine Verwandten in anderen Teilen der Ukraine, bei denen sie unterkommen könnte und sie bringt es auch nicht übers Herz, zu gehen. „Ich bin 61 und man sagt, dass man einen alten Baum nicht woanders hin verpflanzen kann“, sagt sie. „Ich gehöre hierher und viele andere Leute auch. Wir glauben, dass die Ukraine uns gehört und wir werden hier sterben.“

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Krieg nimmt Ukraine die Jugend

Topilina zieht sich in einen stillen Raum des Kulturpalastes zurück, dessen pinke Vorhänge dämpfen die Sonnenstrahlen. Der Krieg treibt ihr die Tränen in die Augen. Er nehme der Ukraine die Jugend, sagt sie. Und wenn die Alten gestorben seien, gebe es nichts mehr. Doch solche Gedanken muss sie beiseite schieben und den Menschen helfen, die darauf warten.

Am Nachmittag dieses 142. Tages des Krieges in der Ukraine fahren Soldaten in einem von Kugeln durchlöcherten Kleinbus zu einer Tankstelle in Konstantinowka. Eine Heckscheibe hat er nicht mehr. Der Auspuff ist kaputt. An der Frontscheibe ist ein Totenschädel aus Plastik.

Roman, einer der Soldaten, trägt Sonnenbrille und Lederhandschuhe ohne Finger. Trotz Tagen voller Streubomben und anderer Lebensgefahren scherzt er. Auf seinem Handy zeigt er Fotos eines Explosionskraters mit einem Fußball darin. „Für die Aussicht“, sagt er.

Für die Aussicht ist auch der verbogene Ring da, der an Romans Schlüsselbund hängt. Er gehört seiner Frau. Zu Hause hat er vier Kinder, alle unter zehn. Er hofft, den Krieg von ihnen fernhalten zu können. „Ich möchte, dass sie in Sicherheit sind“, sagt Roman.

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„Friedlichen Himmel. Mehr nicht“

Er glaubt, die Unterstützung aus dem Westen helfe. Aber er und seine Kameraden brauchen mehr, damit sie für immer nach Hause können. „Ich möchte einen friedlichen Himmel über unseren Köpfen. Mehr nicht“, sagt Roman, bevor er in den den ramponierten Van steigt, der zur Front zurück fährt.

Am Abend dieses 142. Tages des Kriegs in der Ukraine steht ein Mann in Kramatorsk am Tresen einer vernagelten Bar. Aus dem Lautsprecher singt Björk. Bohdan glaubt, dass seine Bar eine von noch dreien in Kramatorsk ist, einer Stadt, die einmal 150.000 Einwohner hatte. Aber es sei besser, hier zu sein, als zu Hause zu sitzen und auf das Geschützfeuer zu hören. Ein paarmal sei er schon fast geflohen. Zwei Tage lang habe er nicht sprechen können, nachdem im April eine Rakete den Bahnhof traf und mehr als 50 Menschen tötete.

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Unter den Opfern sollen auch Kinder sein, teilten die ukrainischen Behörden mit.

Einer seiner Gäste, ein Soldat, fragt Bohdan, warum er noch da ist. Seine Großmutter und sein Vater wollten bleiben, antwortet er. Sein Großvater werde vermisst, nachdem dessen Dorf bei Lyman rund 40 Kilometer von hier im April von russischen Truppen besetzt worden sei. Bohdan hat ihn nicht mehr erreicht, seit er kurz vor dem russischen Einmarsch mit ihm telefonierte. Der Großvater sagte damals noch, er müsse Holz- und andere Vorräte anlegen, um zu überleben.

Bohdan fragt sich, was passiert, falls die Russen auch Kramatorsk einnehmen. Er glaube an die ukrainischen Truppen sagt er, aber auch: „Ich mache mir Sorgen um diesen Ort.“ Minuten später reißt eine russische Rakete einen Krater in einen Platz wenige Kilometer von Bohdans Bar entfernt - er heißt Friedensplatz.

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RND/AP

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