Eine Ukrainerin rettet die Leiche ihres Partners aus Mariupol – und das gemeinsame Dokumaterial
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Sie brachte den mit ihrem getöteten Partner begonnenen Film zu Ende: Hanna Bilobrova in Cannes.
© Quelle: Getty Images
Cannes. Als die Kampfjets über das Festivalpalais donnerten, stand Hanna Bilobrova auf einem Balkon. Instinktiv wollte sie sich zu Boden werfen. Niemand hatte der Ukrainerin gesagt, dass die französische Luftwaffe zu Ehren des Tom-Cruise-Films „Top Gun“ eine Runde über Cannes drehen würde.
„Danach fielen keine Bomben, aber ich musste weinen“, sagt Bilobrova. Flugzeuge über ihrem Kopf hatten in den vergangenen Monaten nur eines bedeutet: Tod und Zerstörung. Ihr Verlobter, der litauische Filmregisseur und Anthropologe Mantas Kvedaravicius, starb Ende März in Mariupol – nach Bilobrovas Worten aber nicht durch eine russische Rakete: „Die Russen haben ihn kaltblütig ermordet“, sagt sie.
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Krieg und Kino: Selten ist dieser Gegensatz in Cannes so unversöhnlich aufeinandergeprallt wie im Fall der tödlichen Geschichte von Kvedaravicius und Bilobrova. Mit Blick auf den alten Hafen und die malerische Altstadt von Cannes erzählt sie von ihren traumatischen Erlebnissen.
„Wir wollten helfen“
Gemeinsam war das Paar nach Mariupol aufgebrochen. „Einen Tag nach meinem Geburtstag am 3. März“, sagt die 29-jährige Bilobrova. Die Nachrichten von ihren Freunden und Verwandten in Schutzkellern hätten sie nicht mehr losgelassen. Sie selbst stammt aus der Region Luhansk. „Wir wollten nicht zuschauen bei dieser Belagerung und nichts tun. Wir wollten als Filmemacher helfen.“
Kvedaravicius hatte schon 2014 einen ersten „Mariupol“-Film über den Ostukraine-Konflikt mit den von Russland unterstützten Separatisten gedreht. Nun wollten sie das Überleben in der belagerten Stadt festhalten, die sich Ende dieser Woche dem russischen Militär ergeben musste.
Ende März war der 45-jährige Kvedaravicius nach Worten seiner Partnerin allein und ohne Kamera in der Hafenstadt im Südosten unterwegs. Er sei nicht zurückgekehrt. Tagelang habe Bilobrova nach ihm gesucht. Dann habe ein Soldat der Separatisten sie zu seinem Leichnam geführt.
Ein Grab war bereits ausgehoben
Ihr Verlobter war nach Angaben von Bilobrova zusammen mit Ukrainern festgenommen worden. „Die, die mit Frauen und Kindern unterwegs waren, haben die Russen nach einer Nacht wieder freigelassen“, sagt sie. Ihren Verlobten ließen sie nicht frei. Sie hält es für möglich, dass sie Kvedaravicius für einen Scharfschützen aus dem Nato-Land Litauen hielten.
„Männer aus Mariupol haben mir schließlich geholfen, die Leiche zu bergen“, sagt Bilobrava. Einer von ihnen hatte bereits begonnen, ein Grab für Kvedaravicius auszuheben. „Für diese Menschen gehörte Mantas zu ihnen“, sagt Bilobrava.
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Nach russischen Angaben haben sich alle ukrainischen Soldaten im Asow-Stahlwerk ergeben. Damit habe Russland die volle Kontrolle über Mariupol.
© Quelle: Reuters
Dann jedoch entschied sie sich, die Leiche zusammen mit dem Filmmaterial aus der Stadt nach Litauen zu bringen. „Vier Tage war ich in mehreren Mietwagen mit Mantas unterwegs, bis ich endlich die litauische Grenze erreichte“, sagt Bilobrava. Dort wartete ein Freund auf sie.
Nun hat Bilobrova sein Werk vollendet. Der Film heißt „Mariupolis II“ und fand in letzter Minute den Weg ins Festivalprogramm von Cannes.
„Die Absurdität des Krieges“
„Wir zeigen die ganze Absurdität des Krieges“, sagt Bilobrova. In langen, wie festgefrorenen Einstellungen beobachtet das Publikum den Alltag der Menschen in einer belagerten Stadt, ganz ohne Kommentar oder Musik.
Die Sonne scheint, und Raketen zischen über den strahlend blauen Himmel. Männer bergen ein kaputtes Stromaggregat, daneben liegen zwei Leichen im Sand. Ein Hund stibitzt ein Stück Butter, und es wird über den Atomkrieg gewitzelt. Und immer wieder sind die Detonationen von Bomben zu hören – manchmal so nahe, dass man sich ducken möchte.
Diese Bilder sind weitab von denen, die wir aus dem Fernsehen kennen. „Sie produzieren keine Schlagzeilen“, sagt Bilobrova. Aber sie vermitteln etwas von dem Gefühl, mit dem die Menschen in Mariupol jeden Tag einfach weitermachen. „Mariupolis“ ist ein erschütterndes Dokument vom Überleben unter unmenschlichen Bedingungen.
Kontakt zu den Menschen in der Stadt hat sie immer noch. Doch ist die Kommunikation wegen der Zerstörung schwierig geworden. Inzwischen sind internationale Untersuchungen angelaufen, die überprüfen, ob es sich bei dem Tod ihres Verlobten um ein Kriegsverbrechen handelt.
Und wie hat Bilobrova es ausgehalten, diesen Film zu beenden? „Das ist das Magische am Kino: Wenn ich mich mit dem Film beschäftige, bin ich wieder mit Mantas zusammen. Dies ist sein Vermächtnis“, sagt Bilobrova.
Genau so hätte es Mantas Kvedaravicius ihrer Ansicht nach gewollt: Die Welt soll in Cannes vom Leben und Leiden der Menschen in Mariupol erfahren.
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