Drehkreuz im Krieg: Warten auf die Flucht und den Kampf
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Er geht nach Kiew, sie flüchtet aus dem Land. Der Bahnhof Lwiw dient derzeit als Drehkreuz für viele Ukrainerinnen und Ukrainer mit ungewisser Zukunft.
© Quelle: Michael Trammer
Lwiw. Tausende Menschen strömen über die Bahnsteige des Bahnhofs von Lwiw. Kinder, Frauen und Familien beladen mit Haustieren, Sack und Pack drängen sich die Treppen auf den Vorplatz hinunter. Vor einem alten sowjetischen Zug in den Landesfarben blau-gelb hält Sergej Marina im Arm. Eine Träne rollt über ihre Wange. Mehrere Minuten stehen sie so da. Marina will fliehen, Sergej fährt nach Kiew.
Es ist einer der vielen tragischen Momente, die sich hier, nur rund 80 Kilometer von der polnischen Grenze, in der westlichsten Stadt der Ukraine, abspielen. Etwa 730.000 Menschen leben hier. Seit der russischen Invasion sind mittlerweile laut UNHCR-Angaben bereits mehr als eine Millionen Menschen außer Landes geflüchtet.
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Khalid will seine Familie in Sicherheit bringen
Bald will auch Ansari Khalid die Ukraine verlassen. Der 49-Jährige trägt einen dicken, schwarzen Parker und beobachtet das Treiben vom Rand des Bahnsteiges. Er und seine Familie sind aus Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, geflohen. Charkiw steht seit Tagen unter russischem Beschuss.
„Ich habe beschlossen, das Land zu verlassen, weil ich nicht weiß, was morgen ist. Heute, als ich hier angekommen bin, haben sie mich von zu Hause angerufen, dass unser Haus bombardiert wurde“, erzählt Khalid. Er reist mit seiner Familie, seiner Frau und seinem Sohn. Die wolle er in Sicherheit bringen, erzählt er weiter. 25 Jahre habe er nun in der Ukraine gelebt, in Charkiw sogar eine eigene kleine Firma für Servicedienstleistungen gehabt. „Ich habe nicht erwartet, dass dieser Krieg passiert“, sagt er und wünscht sich, dass morgen doch nur alles wieder, wie vor einem Monat wäre.
Ob Khalid bald mit einem Zug außer Landes kommen wird, ist unklar. Immer wieder gibt es Berichte, dass andere People of Colour, sowohl beim Anbordgehen in Lwiw, als auch mit den polnischen Behörden Probleme hatten. Das zeigen Recherchen des Netzwerks Lighthouse Reports, die auf Twitter verbreitet werden:
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Alle wollen einen Platz – Panik bricht aus
Das Ringen um die Plätze an Bord ist immens. Immer wieder stürzen ältere Frauen beim Verlassen der Züge. Eine wird auf einem Tragetuch eine riesige Steintreppe zu einer Krankenstation im Untergeschoss des Bahnhofes gebracht. Als auf einmal alle Passagiere eines Zuges, der eigentlich nach Polen fahren sollte, wieder aussteigen müssen, bricht Panik aus, berichten Journalistinnen und Journalisten dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Ein Ticket für den Zug ins Ausland zu bekommen, das dauere ewig, erzählen immer wieder Menschen aus der Schlange, die sich hunderte Meter über den Bahnhofsvorplatz windet. Aus Lautsprechern läuft ukrainische Musik. Direkt neben einer Feuertonne, an der sich Menschen wärmen, steht in der Schlange Nastya, die ihren Nachnamen lieber nicht nennen will. Die Zwanzigjährige stammt aus einem Vorort der Hauptstadt Kiew.
Nastya wartet seit drei Tagen
Die große Temperaturanzeige über dem Haupteingang zeigt drei Grad. Nastya ist in eine flauschige Jacke gehüllt. Mit ihrem Bruder und ihrer Mutter ist sie auf dem Weg nach Polen. Seit drei Tagen hätten sie versucht, einen Zug über die Grenze zu bekommen, heute sei es endlich so weit. „Ich habe große Angst vor der Situation, in der mein Land steckt“, sagt Nastya.
Die anhaltenden Angriffe mit Bomben und Raketen setzten ihr zu. In Polen hoffen sie und ihre Familie, etwas Ruhe zu finden. „Meine Mutter hat über ein Hilfsangebot gelesen, dass wir mehrere Monate bei einer anderen Familie leben können“, sagt sie.
Und nicht nur auf der anderen Seite der Grenze helfen polnische Aktivistinnen und Aktivisten. Seit Tagen stauen sich nun auch auf dem Weg in die Ukraine die Autos. Viele tragen eine rote Markierung mit der Aufschrift „humanitäre Hilfe“.
Das Ziel einiger: der Bahnhofsvorplatz. Hier steht eine Gulaschkanone, ein Feuerwehrmann heizt eine Feldküche mit Feuerholz, um für Warmwasser zu sorgen und in einem Kochtopf, so groß, dass ein ganzer Mensch hineinpassen könnte, wird Suppe für alle gekocht.
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Vor dem Bahnhof wurde in Lwiw eine Versorgungsstruktur aufgebaut. Freiwillige, NGOs und Feuerwehr versorgen hier Menschen, die auf die Weiterfahrt in Richtung Polen warten.
© Quelle: Sitara Thalia Ambrosio
Der Andrang ist riesig
Neben Zelten mit Rotkreuzmarkierung wird Wasser ausgegeben. Auch auf dem Busbahnhof drängen sich Hunderte, die flüchten wollen. Und auch hier soll es am Nachmittag zu tumultartigen Szenen gekommen sein, wie ein Journalist berichtet, der bereits länger vor Ort ist.
So soll ein Militär, als das Gedränge bei einem Bus nach Polen zu groß wurde mit seiner AK-47 gefuchtelt haben. Wenig später fuhr der Bus vollgepackt ab.
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Portrait von Paul Hughes am Banhof von Lwiw in der Ukraine.
© Quelle: Sitara Thalia Ambrosio
Paul Hughes, Kanadier, will gegen Putin in den Krieg ziehen
Doch bei Weitem nicht alle können oder wollen die Ukraine verlassen. Zwischen den Geflüchteten stehen mehrere ältere Männer. Einer trägt, als einer der Wenigen hier, eine taktische Weste in olivgrün. Auf seiner Brust prangt eine kanadische Flagge. Paul Hughes ist 57 Jahre alt, kanadischer Infanterieveteran und will unbedingt bei den Kämpfen gegen die Russen mitmischen. Hughes wartet seit mehreren Tagen in Lwiw auf weitere Informationen. Das ukrainische Verteidigungsministerium hat eine „Internationale Legion“ gegründet, der sich Nichtukrainerinnen und -ukrainer anschließen können.
Seit Beginn der russischen Invasion sind dafür laut ukrainischem Innenministerium mehrere tausend freiwillige Kämpferinnen und Kämpfer eingereist. Einen Anlaufpunkt für die „Internationale Legion“ hat Hughes allerdings noch nicht gefunden. Dabei scheint ein Beitritt eigentlich nicht schwer. Über einschlägige Telegram-Channels werden Rekrutinnen und Rekruten angeworben. Auch die nationalistische Milizen wie der „Rechte Sektor“ rekrutieren offen mit Plakaten in der Stadt für ihre Einheiten.
„Ich war inspiriert durch den Mut der Ukrainer“, so Hughes. Nur dass es hier keinen Rekrutierungstisch, ein Schild oder ähnliches gebe, enttäusche ihn. Man habe ihm bis jetzt auch keine Waffe gegeben, wegen der scharfen Gesetze – das findet er problematisch.
Alle 18- bis 60-Jährigen sollen kämpfen
Dabei ist es tatsächlich so, dass immer wieder vor dem Hauptbahnhof von Lwiw Männer in schwarzer Kleidung diejenigen ansprechen, die aus dem Osten des Landes ankommen. Mutmaßlich, um diese für den Kampf zu rekrutieren. Per Dekret hat der Präsident der Ukraine verfügt, dass alle 18- bis 60‑Jährigen das Land nicht verlassen dürfen. Sie sollen kämpfen.
Immer wieder kam es bereits zu Fluchtversuchen. So sollen laut ukrainischem Grenzschutz 60 Männer bei einem Versuch, dem Dekret zu entgehen, an der Grenze zur Republik Moldau abgefangen worden sein. Sie sollen versucht haben, über den Fluss Dnister die Ukraine zu verlassen.
Ich bin kein mutiger Typ oder Held, aber ich habe keine Angst zu sterben.
Paul Hughes,
kanadischer Infanterieveteran
Und auch Hughes gerät schlussendlich ins Gespräch mit einem rumänischen Mann, der vor allem auf Tiktok mit vermeintlichem Soldateninsiderwissen Aufmerksamkeit durch seine kurzen Videos erregt. Auch er will sich einer Einheit anschließen und habe schon mit einem Kommandanten geredet, sagt er. Bald gehe es an die Front, bald gehe es nach Kiew. „Ich bin kein mutiger Typ oder Held, aber ich habe keine Angst zu sterben“, sagt der Infanterist Hughes.
Unterschiedlicher könnten die Stimmungen am Bahnhof wohl kaum sein. Und während die einen hoffen, dass sie fliehen können, bevor der Krieg auch den Westen der Ukraine erreicht hat, hoffen die anderen auf Waffen und eine Beteiligung am Kampf. Währenddessen liegt der Rauch der mit Holzscheiten beheizten Bahnwagen über den Gleisen. Auch zwei Stunden vor Beginn der nächtlichen Ausgangssperre drängt sich zu Füßen der Jugendstilkuppel immer noch eine Menschenmenge. Nach Einbruch der Dunkelheit stehen die Menschen weiter Schlange.