Aufarbeitung russischer Kriegsverbrechen

Ein Jahr nach Butscha: Internationaler Strafgerichtshof wird aktiv

Ein toter Zivilist mit auf dem Rücken gefesselten Händen liegt auf dem Boden in Butscha.

Ein toter Zivilist mit auf dem Rücken gefesselten Händen liegt auf dem Boden in Butscha.

Butscha, eine kleine Stadt, 25 Kilometer nordwestlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Bis 2022 war dieser Vorort, der um eine alte Bahnstation am Flüsschen Butscha erbaut wurde, nur Einheimischen bekannt. Das änderte sich Ende März 2022, als die russischen Invasoren einen Monat nach Beginn ihres Überfalls das Gebiet rund um die Hauptstadt Kiew räumen mussten.

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Die Bilder der am Straßenrand liegenden toten Zivilisten, teils unter ihren Fahrrädern begraben, teils mit gefesselten Händen, gingen um die Welt. Auch das Bild der 52-jährigen Irina Filkina – das war die Frau mit den rot lackierten Fingernägeln.

Laut ukrainischen Angaben wurden bis August 2022 in Butscha 458 Leichen gefunden, von denen 419 Anzeichen dafür trugen, dass die Opfer erschossen, gefoltert oder erschlagen worden waren. Fast alle Toten waren Zivilisten.

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Ein Jahr später haben Verwandte, Freunde und Nachbarn an acht vor einem Jahr getötete Verteidiger Butschas erinnert. Mit Blumen in den Händen und Tränen in den Augen hatten sie sich am 11. März vor dem Gebäude versammelt, vor dem die Leichen von acht Männern gefunden worden waren.

Ermittler beginnen Leichen aus einem Massengrab zu bergen, um Beweise für Kriegsverbrechen zu sichern.

Ermittler beginnen Leichen aus einem Massengrab zu bergen, um Beweise für Kriegsverbrechen zu sichern.

Nach ukrainischen Angaben hatten die acht Männer eine Straßensperre aufgebaut, um die damals auf Kiew vorrückenden Russen aufzuhalten. Sie wurden demnach gefangen genommen und exekutiert. Ihre Leichen lagen einen Monat lang vor dem Gebäude auf der Jablunska-Straße. Erst im April nach dem Abzug der Russen konnten ihre Angehörigen sie von dort holen.

Wollt ihr neben ihm liegen? Ok, dann weitergehen.

Russischer Soldat

Die Schwiegermutter des getöteten Swjatoslaw Turowskyj sagte der Agentur AP, sie und andere hätten versucht, die Leiche ausgehändigt zu bekommen. „Aber die Russen sagten: Wollt ihr neben ihm liegen? Ok, dann weitergehen.“ Und so hätten sie einen Monat gewartet, um die Leiche zu holen.

Natalija Matwiitschuk, deren 37-jähriger Bruder Andrij auch zu den acht Männern gehörte, sagte, die Angehörigen seien sich danach in ihrem Schmerz nähergekommen. „In der Geschichte der Ukraine, der Stadt und jeder ukrainischen Familie, und natürlich unserer Familie, war das das härteste und beängstigendste Jahr“, sagte sie.

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Das russische Staatsfernsehen behauptete, nachdem die Bilder von Butscha um die Welt gingen, Todesfälle und Verwüstung seien gestellt gewesen. Doch Journalisten, auch vom RND, sahen den Ort des Grauens mit eigenen Augen.

Der deutsche Oberstaatsanwalt Klaus Hoffmann, der immer wieder aus Baden in die Ukraine reist, sieht im Fall Butscha „viele Beweismittel“ – auch, weil die Russen den Ort im Frühjahr Hals über Kopf verließen. Oft sei es aber nicht einfach, Kriegsverbrechen nachzuweisen – also Verbrechen, bei denen es nicht um militärische Ziele ging, sondern um zivile Opfer.

Hoffmann, Mitglied einer internationalen Expertengruppe, half dabei, einheitliche Fragenkataloge für die Vernehmung von Kriegsgefangenen zu erstellen. So wollen Ermittler nicht nur erfahren, „warum und wie jemand möglicherweise einen Zivilisten erschossen hat, sondern auch die Hintergründe erfragen, Wissen abfragen über die Kommandostrukturen, wann, mit wem sie in die Ukraine gekommen sind“.

Am Ende ist es die Frage: Wie können für bestimmte Verbrechen Putin oder sein Verteidigungsminister, der Generalstabschef, der oberste General oder zumindest eine Ebene darunter vor Gericht gestellt werden?

Klaus Hoffmann,,

Deutscher Oberstaatsanwalt

Vor allem geht es darum, Befehlsketten zu ergründen, um die Verantwortlichen zu finden und Schuld zu klären – bis hin zu Kremlchef Wladimir Putin. Hoffmann: „Am Ende ist es die Frage: Wie können für bestimmte Verbrechen Putin oder sein Verteidigungsminister, der Generalstabschef, der oberste General oder zumindest eine Ebene darunter vor Gericht gestellt werden?“

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IStGH plant zwei Verfahren

Am Montag berichtete die „New York Times“ unter Berufung auf interne Quellen, dass der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag offenbar plant, zwei Verfahren wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen Russlands in der Ukraine zu eröffnen. Die Ermittlungen beziehen sich demnach zunächst auf die Verschleppung ukrainischer Kinder und Jugendlicher sowie auf gezielte Angriffe auf die zivile Infrastruktur in der Ukraine.

Eine Frau legt während einer Versammlung Anfang März 2023 zum ersten Todestag von acht Männern, die von den russischen Streitkräften getötet wurden, Blumen nieder. Die acht Männer hatten eine Straßensperre auf einer Straße in der Stadt errichtet, um das Vorrücken der russischen Truppen zu verhindern.

Eine Frau legt während einer Versammlung Anfang März 2023 zum ersten Todestag von acht Männern, die von den russischen Streitkräften getötet wurden, Blumen nieder. Die acht Männer hatten eine Straßensperre auf einer Straße in der Stadt errichtet, um das Vorrücken der russischen Truppen zu verhindern.

Sollte es tatsächlich zu einem Verfahren vor dem IStGH kommen, wäre das der Auftakt einer langwierigen juristischen Aufarbeitung der russischen Invasion, die am 24. Februar 2022 begann. Laut den UN halten sich seit Monaten Sonderermittler in der Ukraine auf, die mögliche russische Kriegsverbrechen dokumentieren sollen.

Beweise habe man zahlreiche gefunden, auch Folterungen und Hinrichtungen von Zivilisten betreffend. Die Ukraine berichtet von mehr als 16.000 nach Russland verschleppten Kindern und Jugendlichen, das Yale Humanitarian Research Lab bestätigt 6000 Fälle.

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In Den Haag würde es auch ganz konkret um die individuelle Verantwortlichkeit der russischen Spitzenpolitiker für Kriegsverbrechen gehen. „Vor dem IStGH genießen aktive Politiker keine Immunität“, bestätigt Christoph Safferling, Inhaber eines Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Völkerrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Voraussetzung sei natürlich, dass man ihrer habhaft werden würde.

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Auch wenn Russland nicht kooperiert – dass eine Auslieferung der Hauptschuldigen nicht ausgeschlossen werden kann, haben die Urteile des Jugoslawien-Tribunals gegen die jugoslawisch-serbischen Führer Slobodan Milošević, Ratko Mladic und Radovan Karadzic wegen der Ermordung von Muslimen in Srebrenica gezeigt.

Als sich in Serbien die politischen Verhältnisse Anfang der Nuller-Jahre geändert hatten, wurde Milošević, der als Schlüsselfigur der Jugoslawienkriege galt, vom damaligen Präsidenten Zoran Đinđić an das Haager Tribunal ausgeliefert und dort verurteilt.

Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit

„Was ich im Fall Russlands sehe, sind Anzeichen für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – auch das sind sehr schwere Vorwürfe“, so Safferling zum RND: „Die Angriffe auf die Zivilbevölkerung, zum Beispiel Geschehnisse in Orten wie Butscha, legen das nahe. Der Internationale Gerichtshof kennt zwar auch die lebenslange Freiheitsstrafe, kann aber, anders als das deutsche Strafrecht, auch lange Freiheitsstrafen von bis zu 30 Jahren verhängen. Für die Hauptverantwortlichen solcher Straftaten in der Ukraine könnten also durchaus 20 bis 30 Jahre Gefängnis drohen.“

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Mit Material von AP und dpa


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