Geflüchtete in Berlin: „Entweder ihr geht jetzt – oder nie“
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Geflüchtete aus der Ukraine kommen am Berliner Hauptbahnhof an.
© Quelle: imago images/Stefan Zeitz
Berlin. Bevor der Zug aus Warschau ankommt, ist am Berliner Hauptbahnhof noch nicht viel los. Touristen, Pendler, der übliche Reiseverkehr. Nur am Reisezentrum der Deutschen Bahn zwischen Gleis 12 und 13 ist Hochbetrieb. Zahlreiche Helferinnen und Helfer sind gekommen.
Noch unterhalten sie sich locker, der Zug aus Polen hat Verspätung. Sie tragen gelbe oder orangefarbene Warnwesten. Auf Klebestreifen stehen ihre Vornamen und die Sprachen, die sie sprechen. Jetzt machen sie sich auf den Weg nach oben. Zum Bahnsteig. Gleich kommt der Eurocity aus Warschau. Und mit ihm Hunderte Geflüchtete aus der Ukraine.
Die Türen öffnen sich. „Liebe Geflüchtete aus der Ukraine, willkommen in Berlin“, tönt es auf Englisch und Ukrainisch aus den Lautsprechern. „Bei Fragen gehen Sie bitte ins Reisezentrum oder wenden sich an die Freiwilligen.“ Großmutter, Mutter, Sohn und Enkelin und viele Koffer und Reisetaschen.
Freiwillige helfen ihnen beim Tragen und lotsen sie zur Ersthilfe im Untergeschoss. Es herrscht Hektik, man sieht den Menschen den Stress der Reise und den Schrecken der vergangenen Tage an. Viele brauchen Hilfe, sie wissen nicht, wohin und wie es weitergeht.
Man traut sich kaum, sie anzusprechen und nach ihren Geschichten zu fragen. Aber manche haben ein großes Bedürfnis, von ihrer Flucht zu erzählen.
Mutter und Sohn: Flucht vor dem Beschuss in Charkiw
Antonina ist 30 Jahre alt und zusammen mit ihrer Schwester, ihrer Cousine und ihrem Sohn aus Charkiw in der Ostukraine geflohen. Charkiw ist die zweitgrößte Stadt des Landes und liegt nur wenige Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Seit Tagen wird sie von der russischen Armee schwer beschossen. „Als die Angriffe immer schlimmer wurden, hat eine Freundin zu uns gesagt: ‚Entweder ihr geht jetzt – oder nie.‘ Innerhalb von einer Stunde haben wir dann unsere Sachen gepackt.“
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„Innerhalb einer Stunde waren unsere Sachen gepackt“: Antonina mit ihrem Sohn.
© Quelle: Thomas Degkwitz
Die Hilfsbereitschaft der Freiwilligen in Warschau und Berlin hat Antonina tief bewegt. Trotzdem sei es ungewohnt, so abhängig von fremder Hilfe zu sein. „Meine Schwester begann zu weinen, als eine Frau ihr in Warschau eine Decke anbot. Vor ein paar Tagen besaßen wir alle diese Dinge noch, jetzt sind wir plötzlich bedürftig.“ Antonina ist sichtlich erleichtert, in Sicherheit zu sein. Sie bekommt immer einen Schreck, wenn Züge in den Hauptbahnhof einfahren. Die Geräusche erinnern sie an die Gefechte in Charkiw.
Antonina will mit ihrem Sohn zu einer Freundin nach Paris, Mutter und Schwester gehen nach Düsseldorf. Sie ist guter Dinge, eines Tages wieder in Charkiw zu leben. Ihre Mutter hingegen glaubt nicht an eine Rückkehr. „Die Stadt ist am Ende“, sagt sie. Während sie auf ihren Zug warten und sich an der Essensausgabe stärken, verschanzt sich Antoninas Vater in ihrer Wohnung in Charkiw, er durfte nicht ausreisen. Wenn der Krieg weitergeht, wird er eingezogen.
Freiwillige helfen den Geflüchteten – während Freunde im Krieg kämpfen
Zu den Menschen, die den Geflüchteten hier im Bahnhof helfen, gehört Artur. Auf seinem Klebestreifen steht „RU, DE, EN“. Der 28-Jährige spricht Russisch, Deutsch und Englisch. Er ist das erste Mal als Helfer da. „Viele Leute fragen, wohin sie zu ihrem nächsten Zug müssen“, erzählt er. Andere brauchen etwas zu Essen oder medizinische Versorgung. Er schickt sie zwei Stockwerke weiter nach unten, dort gibt es Kleidung, Kaffee und Tütensuppe. Die Deutsche Bahn hilft beim Ticketkauf nach München, Hamburg und Nürnberg. Die Freiwilligen organisieren sich über Telegram, laufend werden Züge mit Bahnsteignummer und erwarteter Passagierzahl gepostet.
Der polnische Zug hat den Hauptbahnhof wieder verlassen. Die meisten der Geflüchteten sind schon in den nächsten Zug gestiegen oder erholen sich noch im Ankunftsbereich. Ossama, Anass und Zakarie nutzen die Zeit für eine Pause. Die drei Architekturstudenten aus Charkiw sind erst am Mittwoch in Berlin angekommen und bei französischen Studenten untergekommen. Jetzt sind sie zum Hauptbahnhof zurückgekehrt – als freiwillige Helfer.
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Anass, Zakarie, Ossama sind erst am Mittwoch in Berlin angekommen. Jetzt helfen sie denen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten.
© Quelle: Thomas Degkwitz
„Wir wollen die Hilfe weitergeben, die wir gestern erhalten haben“, sagt Zakarie. Sie bleiben erst mal in der Stadt und werden versuchen, ihr Studium in Deutschland zu beenden. „Ich war kurz davor, meinen Architektur-Bachelor zu beenden“, erzählt Ossama. Die Frage, ob sie in der Ukraine jetzt zum Kämpfen verpflichtet worden wären, bleibt offen.
Jedenfalls haben die drei nach einer Nacht in einer eiskalten Metrostation in Charkiw und einschlagenden Bomben in ihrer Nähe beschlossen, sich auf den Weg nach Westen zu machen. Sie berichten, sie seien mit einem Taxi 25 Stunden zur slowakischen Grenze gefahren, weil sie es nicht schafften, zum Bahnhof in Charkiw zu kommen. Von der Slowakei sei es mit dem Zug nach Berlin gegangen. Freunde von ihnen sind geblieben. Sie kämpfen nun im Krieg, sagt Ossama.
Ossama, Anass und Zakarie haben kaum Hoffnung, in ihre Studienstadt zurückzukehren. Sie sind froh, heil in Berlin angekommen zu sein. „Wir haben gehört, dass gestern der letzte Zug Charkiw verlassen hat“, sagt Ossama. „Wer jetzt noch fliehen will, muss sich zu Fuß auf den Weg machen.“
Nach dem Gespräch ist die Pause der drei Studenten vorbei. Der nächste Zug aus Warschau fährt bald ein. Über 400 Geflüchtete werden erwartet.