Grausamer Racheakt? Russland soll Flechette-Splittermunition in Butscha eingesetzt haben
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/P7SCBYJZHRCNVBLCPXCBHPBHUI.jpeg)
6.4.2022, Ukraine, Butscha: Ein ukrainischer Soldat steht neben zerstörten russischen Panzern in Butscha am Stadtrand von Kiew.
© Quelle: Felipe Dana/AP/dpa
Dutzende der zivilen Opfer im Kiewer Vorort Butscha sind offenbar von russischer Splittermunition getötet worden, sogenannten Flechettes. Das berichtete zuerst der britische „Guardian“ unter Berufung auf vor Ort eingesetzte Gerichtsmediziner. Demnach seien in den Körpern kleine Metallpfeile gefunden worden, die von russischer Artillerie stammen sollen.
Unabhängige Waffenexperten haben dem „Guardian“ nun bestätigt, dass es sich bei den gefundenen Metallsplittern tatsächlich um Flechettes handeln. Eingesetzt hätten russische Truppen die Metallsplittermunition kurz vor ihrem Abzug aus Butscha. Doch warum verwendet Russland ausgerechnet jetzt eine Waffe, die vor allem im Ersten Weltkrieg zum Einsatz kam?
+++ Alle Entwicklungen im Liveblog +++
Gustav Gressel, Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen, zeigt sich überrascht über die jüngsten Berichte von einem Einsatz der Munition: „Dass es Flechette-Munition gibt, ist bekannt. Aber sie ist eigentlich relativ ineffizient im Vergleich zu normaler Sprengmunition. Es wundert mich schon, dass sie eingesetzt wurde“, so Gressel im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Der Einsatz der Munition sei „eigentlich eine Verschwendung von roher Lebensdauer eines Artilleriesystems“.
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Twitter, Inc., der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzhinweisen.
Eine Flechette-Ladung könne man sich laut Gressel als „gigantische Schrotpatrone“ vorstellen: „Es gibt eine Muttergranate, die sich zu einem gewissen Zeitpunkt zerlegt.“ Aus dieser Granate träten dann lauter kleine Pfeile aus, die über einem gewissen Gebiet zu Boden fielen. Die Durchschlagskraft der Flechettes und die Fläche, auf der sie sich verteilen, seien abhängig von der Größe der Metallsplitter, ihrem Gewicht und dem Zeitpunkt der Zündung.
Die Metalldarts seien typischerweise zwischen drei und vier Zentimeter lang, lösen sich von der Schale und verteilen sich in einem kegelförmigen Bogen von etwa 300 Meter Breite und 100 Meter Länge, so der „Guardian“. Dem Bericht des britischen Blatts zufolge kann eine einzige Artilleriegranate bis zu 8000 Flechette-Pfeile enthalten.
Flechette-Einsatz ohne Effekt: „ein Racheakt“
Bei Artilleriewaffen wie russischen Panzern, die in Butscha gesichtet wurden, wirkten Flechette-Geschosse größtenteils nur auf ungeschützte Truppen. Im Ersten Weltkrieg hätte das laut Gressel noch Sinn ergeben: Damals seien Flechettes gegen angreifende Infanterie eingesetzt worden. Heute würden die meisten Militärs keine Metallsplitter mehr einsetzen, da die Waffe nicht besonders effizient ist, so Gressel.
Laut Zeugenaussagen in Butscha wurden die Geschosse von russischer Artillerie abgefeuert, einige Tage bevor sich die Streitkräfte Ende März aus dem Gebiet zurückzogen. Das berichtete zuletzt die „Washington Post“. Eine Bewohnerin der Kiewer Vorstadt hatte am 25. und 26. März entsprechende Metallpfeile gefunden, die ihr Auto durchbohrt hätten. Laut Gressel sei der Einsatz von Metalldarts zu diesem Zeitpunkt ein bloßes „Mittel, um die Leute zu terrorisieren“. Gegen geschützte Einheiten, die vorrücken, würden sie gar nicht effektiv helfen.
Von der Leyen: „Wenn das kein Kriegsverbrechen ist, was ist dann ein Kriegsverbrechen?“
Die Europäische Union hat Russland für den Angriff auf den Bahnhof im ostukrainischen Kramatorsk mit mehr als 50 Toten verantwortlich gemacht.
© Quelle: dpa
Gegen die Ende März vorgerückten ukrainischen Truppen, die in gepanzerten Fahrzeugen Gebiete zurückeroberten und mutmaßlich auch den Rückzug der Russen in Butscha veranlasst hatten, hätte die Flechette-Munition somit gar keinen Sinn. „Dann ist es ein Racheakt“, schlussfolgert der Militärexperte. Ukrainische Truppen warfen Russland nach der Befreiung Butschas vor, grausame Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung verübt zu haben.
Flechette-Munition gilt als besonders grausam: Beim Aufprall auf den Körper eines Opfers kann der Pfeil an Steifigkeit verlieren und sich zu einem Haken verbiegen, während das aus vier Flossen bestehende Heck des Pfeils häufig abbricht und eine zweite Wunde verursacht.
„Das Kriegsverbrechen ist die Absicht, nicht der Einsatz der Munition“
Ob russische Truppen Sprenggranaten oder Granaten mit Metalldarts verwenden, ändere nichts an den Berichten über Kriegsverbrechen in der Ukraine. „Die Absicht, Zivilisten zu töten – als Mittel der Einschüchterung, der Rache oder des Terrors, das ist das Verwerfliche.“ Das eigentliche Kriegsverbrechen sei die Absicht, nicht der Einsatz der Munition.
Artilleriebeschuss von zivilen Wohnsiedlungen ist Teil der russischen Kriegsführung. Das an sich ist schon ein Kriegsverbrechen. Mit welcher Munition sie da reinschießen ist im Grunde zweitrangig.
Gustav Gressel,
Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen
International geächtet sind Flechettes bislang nicht. Ihr Einsatz verstößt in dicht besiedelten Gebieten aber gegen das humanitäre Völkerrecht. Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International bemühen sich schon seit langer Zeit um ein Verbot. Die Hilfsorganisation wirft unter anderem Israel vor, die Munition im Gazastreifen im Winter 2008/2009 eingesetzt zu haben. Auch im Vietnam-Krieg seien seitens der USA Flechettes zum Einsatz gekommen, so der „Guardian“.
Gressel sieht in einem internationalen Verbot kaum Wirkung. Die umstrittene Munition sei „nicht für zivile Ziele gedacht“, sagt er gegenüber dem RND, sie sei nur ineffizient: „Der Ruf ‚Das ist verboten‘ ist eher Augenauswischerei. Das ist auch bei der Brandwaffenkonvention so“, so der Militärexperte im Bezug auf den verboten Einsatz von Phosphor und Napalmwaffen. „Die haben alle Staaten, die sicher nicht Krieg führen werden, unterschrieben.“ Die Staaten, die Krieg führen oder daran denken, Krieg zu führen, hätten sie laut dem Experten nicht unterschrieben. Diese Staaten hätten diese Waffen und würden sie auch einsetzen, so Gressel.
RND/hyd