Mehr Lohn, bessere Bedingungen

„Winter des Unmuts“: Größte Streiks seit Jahrzehnten drohen Großbritannien lahmzulegen

Leere Bahnsteige im Bahnhof Paddington bei einem Streik der Eisenbahner der Gewerkschaften Rail, Maritime and Transport (RMT) und Aslef.

Leere Bahnsteige im Bahnhof Paddington bei einem Streik der Eisenbahner der Gewerkschaften Rail, Maritime and Transport (RMT) und Aslef.

London. Mit dem größten Streik seit Jahrzehnten erreicht der „Winter des Unmuts“ in Großbritannien seinen vorläufigen Höhepunkt. Schätzungen zufolge wollen an diesem Mittwoch eine halbe Million Beschäftigte in zahlreichen Branchen die Arbeit niederlegen. Sie demonstrieren vor allem für deutlich stärkere Lohnerhöhungen, aber auch für bessere Arbeitsbedingungen – und für das Streikrecht an sich. Sieben Gewerkschaften haben ihre Mitglieder zum Arbeitskampf aufgerufen und den nationalen Protesttag koordiniert. In weiten Teilen des Vereinigten Königreichs droht ein Stillstand. Downing Street warnte vor „erheblichen Störungen“.

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Lehrkräfte und Lokführerinnen, Lokführer, Hochschuldozentinnen, Hochschuldozenten und Regierungsmitarbeitende, Busfahrerinnen, Busfahrer und Sicherheitskräfte streiken nun gleichzeitig. Die Unzufriedenheit ist in allen Branchen enorm. Für die kommenden Tage sind bereits weitere Ausstände angekündigt, am Montag und Dienstag etwa erneut vom Pflegepersonal des Gesundheitsdiensts NHS.

Für weitere Kopfschmerzen der konservativen Regierung von Premierminister Rishi Sunak dürfte sorgen, dass kürzlich auch Feuerwehrleute für Streiks stimmten. Die Streikenden eint in erster Linie die Forderung nach einer inflationsgerechten Anhebung ihrer Löhne. Um gut 10 Prozent sind die Verbraucherpreise zuletzt gestiegen.

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23.000 Schulen bleiben geschlossen

Die Regierung bietet etwa Lehrerinnen und Lehrern fünf Prozent mehr Lohn. Viel zu wenig, schimpfte die Lehrergewerkschaft NEU und betonte: „Es geht nicht um eine Gehaltserhöhung, sondern um die Korrektur historischer Reallohnkürzungen.“ Seit 2010 sei der Reallohn um 23 Prozent gesunken, viele Lehrkräfte würden wegen schlechter Bezahlung aus dem Job ausscheiden – das erhöht den Druck auf die, die bleiben, noch mehr. In England und Wales wollen nun schätzungsweise 120.000 Lehrerinnen und Lehrer für einen Tag die Arbeit niederlegen. Etwa 23.000 Schulen bleiben geschlossen.

Den Lehrkräften schließen sich Zehntausende Beschäftigte von 150 Hochschulen an, außerdem Lokführerinnen und Lokführer von 14 privaten Bahnunternehmen. Dazu kommen etwa 100.000 Mitarbeiter des Öffentlichen Diensts aus 124 verschiedenen Regierungsbehörden, aber auch Fahrschulprüferinnen und -prüfer.

Unsplash (@Dillon Shook)

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Die Regierung lehnt Nachverhandlungen ab. Premier Sunak betonte zwar, seine Tür sei immer offen für Verhandlungen. Für Gehaltsgespräche scheint das aber nicht zu gelten. Der 42-Jährige warnte wiederholt, eine inflationsgerechte Anhebung würde den „Teufelskreis“ immer weiter steigender Verbraucherpreise nur antreiben.

Scharfe Kritik von den Gewerkschaften

Den Unmut der Beschäftigten treibt ein umstrittenes Regierungsvorhaben an. Sunak und sein Wirtschaftsminister Grant Shapps haben die ständigen Arbeitskämpfe seit dem vorigen Sommer satt und wollen nun per Gesetz das Streikrecht einschränken. Für Polizistinnen, Polizisten, Feuerwehrleute, NHS-Kräfte oder Bahnpersonal sollen dann strikte Beschränkungen gelten. Sunak argumentiert, dass damit die Grundversorgung gewährleistet werden solle.

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„Die Menschen können nicht frei wählen, wann sie einen Rettungswagen oder die Feuerwehr benötigen“, begründete Shapps seinen Entwurf, der eine faire Balance zwischen Streikrecht und den Nöten der Bevölkerung biete. Am Montag nahm das von den Tories dominierte Unterhaus das Gesetz in dritter Lesung an. Doch im Oberhaus werden Widerstände erwartet. Vor allem die Gewerkschaften kritisieren die Pläne scharf.

Das Vorhaben sei „undemokratisch, nicht durchführbar und mit ziemlicher Sicherheit illegal“, schimpfte der Generalsekretär des Gewerkschaftsbunds TUC, Paul Nowak. Die Gewerkschaften haben den Großstreiktag zum „Schützt das Streikrecht“-Tag erklärt. Landesweit sind Dutzende Proteste geplant. Mit dem Gesetz müssten Arbeitnehmer fürchten, ihre Jobs zu verlieren, warnt auch die Opposition. Labour-Vize Angela Rayner nennt das Gesetz den „Feuert-die-Pflegekräfte-Entwurf“ – und trifft damit offenbar einen Nerv. In Umfragen unterstützt eine Mehrheit die Streikenden. Schuld am Chaos ist in den Augen vieler die Regierung.

Kein Nachgeben von Premierminister Sunak in Sicht

Konnten die Konservativen in der Vergangenheit wiederholt die Labour-Partei, die eng mit den Gewerkschaften verwoben ist, für Streikfolgen verantwortlich machen, zieht dieser Ansatz nach Einschätzung von Beobachterinnen und Beobachtern nicht mehr. Zu viele Menschen sind selbst von steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen betroffen. „Wegen der Lebenskostenkrise kann man diese Streiks nicht mehr als ideologiegetrieben darstellen“, sagte James Frayne vom Beratungsunternehmen Public First dem Online-Portal „Politico“.

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Vielmehr drückt die empfundene Sturheit der Regierung auf ihre Umfragewerte. Seit Monaten liegt Labour klar in Führung, eine Kehrtwende ist bisher nicht absehbar. Stand jetzt müssten die Tories bei der für 2024 geplanten Parlamentswahl ein Debakel befürchten.

13.10.2021, Mecklenburg-Vorpommern, Neubrandenburg: Ein Mitarbeiter sortiert an einem Transportband Paketsendungen im neuen Verteilzentrum des Online-H��ndlers Amazon. Das zweite Verteilzentrum des H��ndlers in Mecklenburg-Vorpommern wird am 13.10.2021 offiziell er��ffnet. Laut Betreiber werden hier t��glich etwa 10.000 Pakete aus europ��ischen Logistik- und Sortierzentren entladen und den Zustellfahrzeuge zugeordnet. Foto: Jens B��ttner/dpa-Zentralbild/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

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Dennoch: Nachgeben werde Sunak nicht, meinen Parteikolleginnen und -kollegen. Von ihnen bekommt der Premierminister vielmehr Rückendeckung. „Wir müssen die Nerven bewahren“, zitierte „Politico“ einen Tory-Abgeordneten. Die Inflation werde bald weiter sinken, damit sinke der Druck auf die Verbraucherinnen und Verbraucher. „Deshalb müssen wir so hart wie möglich bleiben.“

RND/dpa

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