Historikerin: Queere Beziehungen gehören zur Holocaustgeschichte
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Die Holocaustüberlebende Margot Heumann und die Historikerin Anna Hájková. Heumann hat in hohem Alter als erste über ihre lesbische Liebe im Lager berichtet.
© Quelle: Privatarchiv Anna Hájková
Anna Hájková ist Professorin für europäische Zeitgeschichte an der britischen Universität Warwick. Ihre Forschungen zur Lagergesellschaft im Zweiten Weltkrieg sind unter anderem in den Büchern „The Last Ghetto. An Everyday History of Theresienstadt“ (Oxford University Press) und „Menschen ohne Geschichte sind Staub. Homophobie und Holocaust“ (Wallstein-Verlag) erschienen.
Der Bundestag gedenkt am Freitag, 27. Januar, der Opfer des Nationalsozialismus. Im Mittelpunkt der Gedenkstunde stehen in diesem Jahr die queeren Opfergruppen.
Zur Holocaustgedenkstunde im Bundestag wird dieses Jahr besonders die queere Holocaustgeschichte in den Blick genommen. Warum wird erst jetzt auf diese Weise den wegen ihrer sexuellen Identität verfolgten Opfern der NS-Vernichtungspolitik gedacht?
Es ist wahnsinnig überfällig, dass dies passiert. Und es zeigt auch, dass die Geschichte der queeren Opfer des Holocausts noch stärker stigmatisiert ist als die der sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher, die bereits vor drei Jahren im Mittelpunkt des Gedenkens im Bundestag standen. Wären die Unionsparteien noch an der Regierung, hätten wir wahrscheinlich noch länger warten müssen. Zur Wahrheit gehört auch, dass die universitäre Forschung in Deutschland diese Gruppen fast komplett ignoriert hat – lange haben ausschließlich einzelne Aktivistinnen und Aktivisten und später auch Gedenkstätten das Thema bearbeitet.
Es werden zwei Biografien vorgetragen: Die eines schwulen Mannes, der von den Nazis wegen des Paragrafen 175 verfolgt wurde – und nach dem Krieg vom selben Richter erneut wegen desselben Paragrafen verurteilt wurde. Und die einer lesbischen Frau, die als Jüdin und „Asoziale“ ins Lager gesteckt und umgebracht wurde. Sind Schwule und Lesben im Nationalsozialismus unterschiedlich verfolgt worden – und was bedeutet es für die Erinnerung?
Es stimmt so nicht, dass schwule Männer nur wegen des Paragrafen 175 verfolgt worden sind. Ihre Verfolgung war sehr oft intersektional: Ein schwuler Mann wurde nicht nur verfolgt, weil er schwul war, sondern auch weil er aus der Unterschicht kam, weil er schon vorbestraft war, oder weil er ein Nichtarier war und so weiter. Etwas Ähnliches passierte bei Frauen. Der Paragraf 175 galt für sie nicht – dennoch sind vereinzelt auch Frauen danach verurteilt worden. Lesbische Frauen wurden mit unterschiedlichen Paragrafen des Strafgesetzbuches verfolgt: Erregung des öffentlichen Ärgernisses, Diebstahl, Prostitution, sexuelle Belästigung von Minderjährigen. Mary Pünjer, deren Biografie im Bundestag verlesen wird, war lesbisch und Jüdin – eine klassisch intersektionale Verfolgung.
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Anna Hájková ist Professorin für europäische Zeitgeschichte an der britischen Universität Warwick.
© Quelle: RND
Zur queeren Holocaustgeschichte gehört nicht nur die Verfolgung von Homosexuellen, sondern auch eine ganze Bandbreite von Beziehungen in den Lagern – von Abhängigkeitsverhältnissen über sexuellen Tauschhandel bis zu echten Liebesbeziehungen. Überlebende der Lager beschreiben schon in ihren ersten Berichten gleichgeschlechtliche Beziehungen – und sie tun es meist mit Abscheu. Warum?
Wir wissen aus unterschiedlichen Kontexten über KZs, Gulags und Haftstätten generell, dass es in diesen monosexuellen Orten zu gleichgeschlechtlichem Verlangen kommt von Leuten, die sich sonst nicht als lesbisch oder schwul definieren würden. Sehr viele der befreiten Häftlinge dieser Lager berichten homophob über Beispiele gleichgeschlechtlichen Verlangens. Für sie ist es eine Metapher für alles, was die Lagergesellschaft von der „normalen“ Gesellschaft draußen unterscheidet. Das beginnt mit den ersten Berichten und hat sich in der Mehrheitserzählung über Holocaust und Lagergesellschaft bis heute eigentlich nicht geändert. Wenn ich Vorträge dazu halte, kommen meist Interessierte aus der LGBT-Community zu den Vorträgen und nicht diejenigen, die sonst zu Vorträgen über Holocaustgeschichte kommen. Es ist, als ob queere Geschichte nur für queere Leute da ist, während Hetero-Geschichte für alle da ist.
In Ihrem Buch „Menschen ohne Geschichte sind Staub. Homophobie und Holocaust“ (Wallstein-Verlag) berichten Sie von vielen Beispielen queerer Beziehungen in der Lagergesellschaft. Was ändert es für unseren Blick auf den Holocaust, dass diese Berichte nun öffentlich sind?
Ich glaube, wir bekommen damit eine inklusivere, authentischere und menschlichere Geschichte. Der Holocaust ist zu dem Gründungsmythos des 20. Jahrhunderts geworden, aus guten Gründen. Doch er ist auch eine nützliche Geschichte geworden, die zunehmend schwarz-weiß und sentimentalisiert erzählt wird. Wir leben in Zeiten des wachsenden Rechtspopulismus und Faschismus. In Situationen wie heute ist es unglaublich wichtig, sich mit Geschichten des Nationalsozialismus und des Holocausts auseinanderzusetzen und alle Aspekte dieser Geschichten zu beleuchten.
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Mitten im russischen Krieg: Wie eine Holocaustüberlebende aus Kiew 2022 ihre Familie wiederfand
Anna Strishkowa hat Jahrzehnte vergeblich versucht, ihre Herkunft herauszufinden. Fehler in einer sowjetischen Dokumentation und Erinnerungslücken führten die Kiewerin auf die falsche Fährte. Nun halfen ihr ein deutscher Filmemacher, das Stuttgarter Landeskriminalamt und ein ukrainischer Holocaustforscher - mit Erfolg.
Sie berichten von der deutschen Jüdin Margot Heumann, die als Heranwachsende in Theresienstadt und Neuengamme eine lesbische Beziehung zu einer Mitinhaftierten führte. Sie berichten auch von dem polnischen jüdischen Jungen Nate Leipciger, der im KZ von einem Funktionshäftling zu seinem Gehilfen gemacht wurde und von diesem auch sexuell missbraucht wurde. Was zeigen uns diese sehr unterschiedlichen Beziehungen?
Gerade die Geschichte von Nate Leipciger ist ungemein komplex. Er hat in hohem Alter seine ganze Geschichte erzählt. Diese Beziehung beginnt mit sexueller Gewalt, bekommt dann auch Aspekte der Zuneigung – der Junge führt sie eben nicht nur fort, weil er über den Kapo Zugang zu Ressourcen wie besserem Essen und besserer Kleidung hat. Und er berichtet von seiner Eifersucht, wenn er von einem anderen Jungen ersetzt wird und seine privilegierte Rolle verliert. Die Geschichte von Margot Heumann und ihrer Freundin Emma wiederum ist die einer lebenslangen Liebe, die den Mädchen half, die Lager zu überleben – die beiden wurden nach der Befreiung zwar nie wieder ein Paar, hielten aber bis an Margots Lebensende Kontakt. Für Margot war meine Aufarbeitung ihrer ganzen Geschichte unglaublich befreiend, glaube ich.
Der Bundestag erinnert in der Gedenkstunde am Freitag beispielhaft an zwei Verfolgte der Nationalsozialisten:
Karl Gorath aus Bremerhaven wurde mehrfach nach Paragraf 175 verurteilt, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte. 1938 wurde er zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt, nach deren Verbüßung im KZ Neuengamme in „polizeiliche Vorbeugungshaft“ genommen und im Juni 1943 in das KZ Auschwitz deportiert. Nach der Befreiung wurde er 1946 in Bremen von demselben Richter verurteilt, der ihn bereits 1938 bestraft hatte. Der Paragraf 175 wurde noch bis in die 1960er-Jahre angewandt.
Die Hamburger Jüdin Mary Pünjer wurde 1940 als verheiratete Frau unter dem Vorwand der „Asozialität“ als „Lesbierin“ verhaftet und im Frauen-KZ Ravensbrück interniert. Dort wurde sie Anfang 1942 für die Mordaktion „Aktion 14f13“ selektiert. Im Frühjahr 1942 wurde Mary Pünjer in der als Gasmordanstalt genutzten „Landes-Heil- und Pflegeanstalt“ Bernburg (Saale) ermordet.