Inflation der Katastrophen: Leben wir in der schlimmsten aller Zeiten?
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© Quelle: Pixabay/RND-Montage Weinert
Hannover. Ja, dieser Sommer war spektakulär. Er war lang, er war heiß, und er war vor allem trocken. Der Sommer hat Rekorde purzeln lassen. Aber war er auch ein Katastrophensommer?
Mitte Juli schon lösten die Meteorologen Alarm aus. Nach einem Wettermodell aus den USA gab es eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass in weiten Teilen Mitteleuropas Temperaturen von weit über 40 Grad im Schatten herrschen könnten. Es war zwar noch eine Woche hin, die Mechanismen einer auf Krisen und Katastrophen getrimmten Gesellschaft aber funktionierten prächtig.
Tagelang drehte sich alles um eine Frage: Wo wird es 40 Grad heiß – und wie soll man das nur überstehen? Der Wetterbericht verdrängte den Krieg in der Ukraine von Platz eins in den Nachrichten.
Es kam tatsächlich Hitze aus Südeuropa zu uns – deutlich später als vorhergesagt. Sie war nicht ganz so schlimm, und die extremen Temperaturen blieben nur für ein paar Tage in Deutschland. Es brauchte keine künstlichen Kühlzonen für ältere Menschen in den Innenstädten, es gab keinen Ansturm auf die Krankenhäuser.
Die Nation war in Aufregung, bevor etwas geschehen war. Der Alarm beruhte allein auf einer Prognose.
Verlieren wir den Überblick?
Weit über das Wetter hinaus prägt das Prinzip der angesagten Katastrophe inzwischen Stimmungen und politische Debatten. Eine von einer ganzen Kette von Krisen geschüttelte und von Corona zermürbte Gesellschaft droht da bisweilen den Überblick zu verlieren: Was ist gerade wirklich ein Problem – und was nur die Ankündigung einer Katastrophe?
Beispiel Corona: Die vergangenen zweieinhalb Jahre mit dem Virus haben uns gelehrt: Vorhersagen darüber, wie sich Corona und das Leben mit Corona entwickeln werden, sind unglaublich schwer. Fast alle medizinischen Prognosen sind zuletzt schnell von der Wirklichkeit überholt worden. Die Entdeckung der Omikron-Variante etwa löste im vergangenen Herbst noch echte Panikwellen aus. Inzwischen weiß man, dass Omikron der Krankheit auch einige Schrecken nehmen konnte.
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Und wie geht es weiter? In einem relativ entspannten Corona-Sommer verging kaum ein Tag, an dem nicht vor einem problematischen Herbst und Winter gewarnt wurde. Den Anfang macht Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach schon am Ostersonntag: Er warnte vor einer „Killervariante“ des Coronavirus im Herbst. Das brachte dem SPD-Politiker vor allem wegen der Wortwahl viel Kritik ein – im Prinzip änderte sich in den folgenden Monaten jedoch wenig: Der Herbst, so der Tenor der Gesundheitspolitiker, könne ein böses Erwachen bringen.
Das ist auch durchaus möglich, aber eben auch noch keineswegs entschieden.
Wird sich eine gefährlichere Variante entwickeln? Lässt der Impfschutz zu schnell nach? Kommen angepasste Impfstoffe zu spät, um neue Corona-Wellen zu verhindern?
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Hauptstadt-Radar
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Diese Fragen müssen sich Fachleute und Politiker stellen, Prävention ist ihre Aufgabe. Dabei aber sollte das Publikum nicht vergessen: Die ständige öffentliche Wiederholung der Fragen und der Warnungen vor dem Herbst dienen letztlich einem politischen Zweck: Der Druck innerhalb des politischen Betriebs soll hoch gehalten werden, damit Deutschland nicht wieder einen Sommer verschläft und unvorbereitet in die nächste Corona-Welle stolpert.
Die Botschaften des obersten Mahners Lauterbach sind daher nicht zuletzt an die Politikerkollegen in der Koalition und im Parlament gerichtet – sie wirken aber nun einmal auch beim Publikum. Der Gesundheitsminister muss sich daher den Vorwurf der Panikmache gefallen lassen. Und bei vielen Menschen führt die Inflation der Warnungen und Mahnungen zum Abstumpfen. Zumal dann, wenn mit den Affenpocken gleich die nächste Infektionskrankheit die Schlagzeilen beherrscht, wenn es um Corona gerade einmal etwas ruhiger geworden ist.
Die Politik bewegt sich hier auf einem schmalen Grat, grundsätzlich aber gilt: Angesagte Katastrophen sind die besseren Katastrophen – denn man kann sich darauf vorbereiten. Und sie verhindern. Damit erfüllt die Ankündigung einer Katastrophe durchaus eine Funktion. Immer dann, wenn die Entscheidungsträger in Politik und auch Wirtschaft wissen, dass sie ihr Land vor großen Gefahren bewahren müssen, sinken die tatsächlichen Risiken für alle. Umgekehrt formuliert: Es droht immer dann das größte Unheil, wenn Katastrophen und Herausforderungen auf einen Zustand großer Entspannung und Sorglosigkeit treffen – etwa bei den Terroranschlägen vom 11. September 2001 oder beim Ausbruch von Corona Anfang 2020.
Beispiel Weltpolitik: Auch der Krieg in der Ukraine war eine angesagte Katastrophe – das Prinzip der Prävention und des Gegensteuerns aber hat nicht funktioniert, weil der Westen die Warnungen nicht wahrhaben wollte und die wachsende Gefahr ignorierte. Europa und die USA hatten sich in einer Sicherheitsarchitektur eingerichtet, die nicht zu der aggressiven Ausrichtung Russlands passte. Zudem erschwerte die Abhängigkeit von russischem Gas und Öl ein Umdenken schon nach der Annexion der Krim. Weil die westlichen Industrienationen lange keine wirklich große militärische Katastrophe mehr erlebt hatten, schwand auch die Bereitschaft, sich für eine solche zu wappnen. „Das Denken in Worst-Case-Szenarien ist im geopolitischen Umgang mit Russland bei den westlichen Demokratien nicht wirklich ausgebildet gewesen“, urteilt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler.
Sogar Deutschland rüstet auf
Niemand kann vorhersagen, wie lange die Kämpfe in der Ukraine noch dauern werden und wie dieser Konflikt am Ende gelöst werden soll. Die Gefahr einer Ausweitung des Ukraine-Krieges ist noch lange nicht gebannt. Aber die Gefahr einer Eskalation ist im vergangenen halben Jahr jedenfalls nicht gestiegen, sie ist vielmehr geringer geworden.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Russland das Baltikum überfällt, war vor einem Jahr größer als jetzt. Die Nato hat aufgerüstet und ihre schnelle Eingreiftruppe in Bereitschaft gebracht. Finnland und Schweden werden bald im westlichen Verteidigungsbündnis sein, der deutsche Bundeskanzler verkündet die Zeitenwende. Und tatsächlich: Sogar Deutschland rüstet auf. Niemand mehr läuft Gefahr, Wladimir Putin zu unterschätzen. Da jeder weiß, welche Folgen ein atomarer Erstschlag auslösen wird, sinkt auch die Gefahr eines Einsatzes von Atomraketen.
Beispiel Energiepolitik: In der Wirtschaft weiß man spätestens seit der Finanzkrise: Je unbeschwerter die Unternehmer und die Märkte sind, desto größer die Gefahr einer Katastrophe. Je mehr Warnungen es aber gibt, desto vermeidbarer ist ein Crash. Der kommende Winter wird wegen der explodierenden Energiepreise ohne Zweifel zu einer gewaltigen Belastung für die Wirtschaft und für die Privathaushalte. Wie bei Corona sollten aber auch die Horrorszenarien von gekappten Gaslieferungen bei Unternehmen und kalten Wohnungen als das verstanden werden, was sie in erster Linie sind: als Mahnung und als Appell zum Gegensteuern.
Wer kannte vor einem Jahr schon die Bundesnetzagentur? Heute bestimmt der Chef der Behörde, Klaus Müller, den Takt der Nachrichten. Im Frühsommer verging kein Tag, an dem Müller nicht vor einer Katastrophe im Winter gewarnt hätte: kalte Klassenräume, abgeschaltete Saunen, große Betriebe, denen die Versorgung mit Energie gekappt wird.
Sorge vor dem Winter
Ausgeschlossen ist das alles auch heute noch nicht. „Der Winter darf nicht besonders kalt werden“, sagt Müller weiterhin. Doch auch die große Versorgungskrise ist zumindest unwahrscheinlicher geworden, denn die Warnungen haben ihre Wirkung nicht verfehlt: Die privaten Verbraucher und die Betriebe sparen schon im Sommer Gas, die Politik verpflichtet die Energielieferanten zur Vorratshaltung in den Gasspeichern. Und tatsächlich: Schon Ende August hatte Wirtschaftsminister Robert Habeck verkünden können, dass die Gasspeicher früher gefüllt sein werden als erwartet.
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Habeck gegen Lindner: die Gelb-Grün-Schwäche der Regierung
An guten Tagen sind Wirtschaftsminister Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner wie Hund und Katze, die schon eine Weile gemeinsam in einem Haushalt leben und gelernt haben, die Irritationen zu ignorieren, die der jeweils andere auslöst. Es gibt aber nicht so viele gute Tage.
Zukunftsängste lassen sich mit solchen rationalen Erwägungen allein nicht vertreiben. Das Leben im Dauerkrisenmodus hinterlässt Spuren – zumal dann, wenn die angesagte Katastrophe im Panikmodus verkündet wird. Vieles fühle sich eben nach Untergang an, sagt auch Jared Diamond, Professor für Geografie in Los Angeles. Diamond ist berühmt für seine Analysen zum Kollaps von Gesellschaften. Er spricht nicht von der schlimmsten aller Zeiten, aber doch von der „krisenhaftesten aller Zeiten“. Der weltweite Zusammenbruch aber sei keineswegs ausgemachte Sache, schreibt Diamond. „Ich bin vorsichtig optimistisch, dass wir in den nächsten Jahren die richtigen Entscheidungen treffen werden.“