Politischer Extremismus: mehr Islamisten – aber vorerst weniger Gefahr
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Der Angeklagte im Oberlandesgericht München bei der Urteilsverkündung. Der Islamist hatte im ICE zwischen Passau und Hamburg wahllos auf vier Männer eingestochen und drei schwer verletzt.
© Quelle: Sven Hoppe/dpa
Berlin. Es ist erst ein paar Tage her, dass das Oberlandesgericht München einen Islamisten zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren verurteilte. Der 28-Jährige wurde für schuldig befunden, im November 2021 in einem ICE in Bayern auf vier Reisende mit einem Messer eingestochen und dabei drei von ihnen schwer verletzt zu haben. Während die Verteidigung behauptete, der Mann sei psychisch krank, sahen die Bundesanwaltschaft und das Gericht einen radikal-islamistischen Hintergrund.
Nun sagen die meisten Fachleute, die größte Gefahr gehe heute vom organisierten Rechtsextremismus aus. Neonazistische Gewalttaten wie in Halle und Hanau sowie der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke belegen das.
520 Gefährder
Tatsächlich hatte der Islamismus seinen zweiten Höhepunkt nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York und Washington sowie den folgenden Terrorakten in Madrid und London schon Mitte des vorigen Jahrzehnts mit Aufsehen erregenden Attentaten in Paris, Nizza, Brüssel und am Berliner Breitscheidplatz. Die Attraktivität der Szene speiste sich seinerzeit nicht zuletzt aus der Existenz des selbsternannten „Islamischen Staates“, der in Syrien und Irak ein „Kalifat“ ausgerufen hatte – und gleichzeitig Terroristen nach Europa entsandte oder sie steuerte. Das ist vorüber.
Von den 1150 aus Deutschland ins „Kalifat“ ausgereisten Islamisten sind offiziellen Angaben zufolge rund 40 Prozent zurückgekehrt. Die Bundesregierung hat in sieben Aktionen allein 26 Frauen mit über 50 Kindern nach Deutschland heimholen lassen. Deren Männer sind oft entweder tot oder in Haft. 37 Islamisten mit deutscher Staatsbürgerschaft sitzen nach wie vor in kurdischen Gefängnissen, manche seit vier oder fünf Jahren.
Unter den verbliebenen Islamisten ist das Durchschnittsalter zuletzt gesunken, von 20,6 im Jahr 2020 auf 18 in diesem Jahr. Charismatische Führungsfiguren wie einst Pierre Vogel oder der inhaftierte Abu Walaa spielten keine Rolle mehr, sagt Claudia Dantschke, die Leiterin der „Beratungsstelle Leben“ des Vereins Grüner Vogel, die bis 2020 den Namen „Hayat!“ trug. Und Strukturen seien derzeit eher regional oder gar lokal. Das Netzwerk Tiktok diene als Plattform.
Das alles bedeutet aber nicht, dass der Islamismus verschwunden wäre. Rita Schwarzelühr-Sutter, Sozialdemokratin und Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesinnenministerium, sagte kürzlich: „Wir haben nach wie vor eine Gefährdungslage.“ So standen laut Bundeskriminalamt am 1. Dezember dieses Jahres 520 islamistischen Gefährdern (2021: 554) 74 rechtsextremistische (2021: 76) und elf linksextremistische (2021: ebenfalls elf) gegenüber.
Bewährte Hotline
Die Beratungsstelle Radikalisierung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, die Anfang November zehn Jahre bestand, macht ähnliche Erfahrungen. Seit 2012 können sich Angehörige von Islamisten oder sie selbst an die Nürnberger Hotline wenden, um etwaige Gefährdungen kundzutun. Stellt sich das Problem als gravierend heraus, werden Betroffene zur intensiveren Betreuung an regionale Beratungsstellen weiter verwiesen, wie etwa an die bereits erwähnte Berliner „Beratungsstelle Leben“, die von dort aus Ostdeutschland betreut. In diesen zehn Jahren sind über 5000 Anrufe eingegangen. Daraus haben sich etwa 1200 Beratungsfälle ergeben. Eine höhere dreistellige Zahl sei sicherheitsrelevant gewesen, heißt es.
Ziel müsse sein, eine Radikalisierung frühzeitig zu vermeiden, sagt Staatssekretärin Schwarzelühr-Sutter. Die 20 bis 25 Anrufe, die nach wie vor jeden Monat bei der Beratungsstelle Radikalisierung in Nürnberg eingehen, bieten eine Chance dazu.