„Judensterne“ auf „Querdenker“-Demos: Die Holocaust-Relativierung hat Tradition

„Ungeimpft“ steht auf einem nachgebildeten „Judenstern“ am Arm eines Mannes. Er hatte versucht, sich unter die Teilnehmer einer Demonstration zu mischen, die sich auch gegen Verschwörungstheorien zum Corona-Virus wendet.

Ein „Judenstern“ am Arm eines Mannes, der sich gegen die Corona-Beschränkungen wendet.

Berlin. Die Corona-Pandemie hat ja bekanntlich alles Mögliche sichtbar gemacht – an staatlichen Unzulänglichkeiten wie auch an gesellschaftlichen Missständen. Zu Letzteren gehört, dass der wachsende Antisemitismus zunehmend offen zur Schau getragen wird. Sinnbild dafür ist der gelbe „Judenstern“, der sich auf „Querdenker“-Demonstrationen findet, versehen mit der Aufschrift: „ungeimpft“. Die, die ihn tragen, setzen sich so mit jenen sechs Millionen Juden gleich, die zwischen 1933 und 1945 von den Nationalsozialisten getötet wurden.

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Experten wissen freilich, dass die darin steckende Relativierung des Holocaust schon lange keine Seltenheit mehr ist. Sie zieht sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch die deutsche und die europäische Geschichte – nur seit Jahren mit steigender Tendenz.

Zunächst vor allem Schweigen

In den frühen Nachkriegsjahren seien Holocaust-Relativierung und Holocaust-Leugnung zunächst auf die rechtsextremistische Szene begrenzt gewesen, sagt Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin. Zentral war dafür die Sozialistische Reichspartei (SRP), die 1952 verboten wurde. Später machte der Brite und Holocaust-Leugner David Irving von sich reden – und blieb eine Randfigur. Die einschlägig bekannte „National-Zeitung“ fand sich ebenfalls bloß an einzelnen Kiosken.

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Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sagt mit Blick auf die Mehrheit der Deutschen nach dem Krieg: „Am Anfang wurde praktisch nicht über den Holocaust gesprochen. Es wurde vieles verdrängt. Man konzentrierte sich auf das Wirtschaftswunder und den Wiederaufbau.“

Vergleich mit den Vertreibungen

Bald habe dann aber eine „Trivialisierung des Holocaust“ eingesetzt, sagt Juliane Wetzel. Man habe ihn auf eine Stufe gestellt mit der Vertreibung von Schlesiern oder Sudetendeutschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Zugleich sei immer wieder behauptet worden, über den Holocaust werde gesprochen und geschrieben, über die Vertreibung hingegen nicht.

Dabei sei diese Behauptung nachweislich falsch. Für derlei Gedankengut waren die Vertriebenenfunktionäre Herbert Hupka und Herbert Czaja einschlägig, nach ihnen auch Erika Steinbach als Präsidentin des Bundes der Vertriebenen – die als ehemaliges CDU-Mitglied und Bundestagsabgeordnete kürzlich in die AfD eingetreten ist, was am Ende niemanden mehr verwunderte.

Erika Steinbach, Vorsitzende der Stiftung Desiderius-Erasmus, beim Bundesparteitag der AfD 2018 in Augsburg.

Erika Steinbach beim Bundesparteitag der AfD 2018 in Augsburg.

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Zug um Zug wurden unstatthafte Vergleiche hoffähig – oder sollten hoffähig gemacht werden. Und das keineswegs allein von Rechtsaußen. Zwar sprachen Neonazis gemünzt auf die Bombardierung Dresdens vom „Bomben-Holocaust“. Als habe es mit den Angriffen Nazi-Deutschlands im Allgemeinen und dem Angriff auf die britische Stadt Coventry im Besonderen keine Vorgeschichte und keine Ursache gegeben. Die Täter-Opfer-Umkehr gilt als typisch. Wer aggressiv für ein Ziel streiten will, stellt sich selbst als Objekt dar.

„Holocaust auf deinem Teller“

2003 startete jedoch die keineswegs rechtsradikale Tierschutzorganisation Peta eine Kampagne mit dem Titel: „The holocaust on your plate“ – „Der Holocaust auf deinem Teller“. Ein Ziel hatte Peta damit zumindest erreicht. „Mit Holocaust-Vergleichen erzeugt man Aufmerksamkeit“, sagt die Antisemitismusforscherin Wetzel. Das machten sich auch Abtreibungsgegner zunutze, die neben dem „Bomben-Holocaust“ vor dem „Abtreibungs-Holocaust“ warnten.

Eine weitere sehr verbreitete Relativierung des Holocaust, die eher aus der linken und der islamisch-islamistischen Ecke kommt, ist die Bewertung des Nahost-Konflikts. Da heißt es dann, die Israelis würden mit den Palästinensern ungefähr das tun, was die Nationalsozialisten mit den Juden getan hätten.

Andere Aspekte des komplizierten Konflikts fallen unter den Tisch, so der, dass der radikalislamische Flügel der Palästinenser, die Hamas, das Existenzrecht Israels nicht anerkennt. Islamisten, die so denken, tun dies vorzugsweise am Al-Kuds-Tag kund, der der „Befreiung“ Jerusalems gewidmet ist. Dort wiederum tummeln sich auch deutschstämmige Antisemiten und Verschwörungsideologen.

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Hinzu tritt meistens das, was Forscher den „sekundären Antisemitismus“ nennen. Man macht den Juden die Thematisierung des Holocaust zum Vorwurf – und attestiert ihnen, sie täten dies, um konkrete Ziele zu erreichen, wie etwa Entschädigungen. Bei einer Umfrage antworteten zuletzt zwei Fünftel der interviewten Frauen und Männer, die Juden sprächen zu viel vom Holocaust. Dass sie finanzielle Interessen verfolgen, gehört wiederum seit jeher zu den antisemitischen Stereotypen.

In diesen Kontext gehört der ehemalige FDP-Politiker Jürgen W. Möllemann, der im Bundestagswahlkampf 2002 einen Flyer an alle Haushalte in Nordrhein-Westfalen verteilen ließ, in dem er sich als Kritiker des israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon und als Opfer der Machenschaften des Publizisten Michel Friedman präsentierte. Möllemanns Botschaft war unmissverständlich: Sharon erzeuge mit seiner Politik gegenüber den Palästinensern und Friedman mit seiner Thematisierung des Holocaust genau jenen Antisemitismus, den sie nicht wollten.

Neu ist, dass sich linke und rechte Spektren verbünden und gemeinsam auf „Querdenker“-Demos gehen. So konnte man bei den Protesten gegen die Reform des Infektionsschutzgesetzes im November 2020 am Brandenburger Tor bekannte Rechtsextremisten sehen – und ein paar hundert Meter weiter Impfgegner, die John Lennon-Lieder sangen, ohne dass sich die einen an den anderen zu stören schienen.

Der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein erinnert unterdessen daran, dass das Wort „Holocaust“ in Deutschland erst 1979 Eingang in den allgemeinen politischen Sprachgebrauch gefunden habe, nämlich durch die gleichnamige US-amerikanische Fernsehserie, die in Deutschland große Aufmerksamkeit fand und weithin Erschütterung auslöste. Manche Deutsche brauchten offenbar 34 Jahre, um den Massenmord als deutsches Verbrechen zur Kenntnis zu nehmen.

Zugleich sei Nazi-Sprache wie das zynische „Jedem das Seine“, das sich über dem Eingang des Konzentrationslagers Buchenwald in Thüringen fand, oder die Formulierung „bis zur Vergasung“ Teil der Alltagssprache gewesen, so Klein. „Heute sagt das Gott sei Dank niemand mehr.“

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Anne Frank als „Die Ofenfrische“ tituliert

Gleichwohl sei, nicht zuletzt befördert durch die Verbreitung im Netz, Antisemitismus wieder alltäglich geworden. In Fußballstadien werde gesungen „Wir bauen eine U-Bahn von Berlin (Hamburg oder Frankfurt) bis nach Auschwitz“, dem Vernichtungslager in Polen. In Chats an Schulen werde Anne Frank als „Die Ofenfrische“ tituliert. „Man postet heute Dinge, die man früher allenfalls gedacht hätte.“

„Ein Riesenproblem“, sagt der Antisemitismusbeauftragte, sei „Holocaust-Relativierung auch im Rap“. So hätten Farid Bang und Kollegah gesungen: „Mein Körper ist so vermessen wie der von Auschwitz-Insassen.“ Xavier Naidoo dürfe mittlerweile als Antisemit bezeichnet werden. Das Anheften von „Judensternen“ wie auf Corona-Demos sei außerdem „schon längst strafbar. Aber erst jetzt greift die Justiz durch.“ Klein findet: „Das kommt etwas spät.“

Die Gegenwehr formiert sich

Dabei ist die Relativierung des Holocaust nicht unbedingt immer auf Nicht-Juden beschränkt. So kritisierte der jüdische Publizist Henryk M. Broder kürzlich, dass Bundestagsabgeordnete der AfD, die sich nicht den Corona-Regeln unterwerfen wollten, bei der Gedenkstunde zur Befreiung von Auschwitz auf der Tribüne hätten Platz nehmen müssen. Denn auch das, was Auschwitz vorausging, habe mit „Ausgrenzung“ begonnen. Allerdings ist Broder, dessen Eltern den Nationalsozialismus überlebten, ein tragischer Einzelfall.

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Im Übrigen gibt es Gegenwehr. Seit 2018 existiert das unter anderem von der „Zeit“-Stiftung initiierte Projekt „Stop Antisemitismus“ – mit dem erklärten Ziel, „die Zivilgesellschaft für alltäglichen Antisemitismus zu sensibilisieren, zu informieren und Hilfestellung zu bieten“. Beleg der Gegenwehr ist auch Felix Klein als Person. Er wurde ebenfalls 2018 berufen und hat seinen Sitz im Bundesinnenministerium. Juliane Wetzel stellt jedenfalls klar: „Es wird einiges getan, um dem Antisemitismus etwas entgegenzusetzen.“

Das, so scheint es, ist so notwendig wie lange nicht mehr.

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