16.000 Menschen in der „kritischen Zone“

Simulation zeigt: Diese Folgen drohen nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms

Dieser Screenshot aus einer Simulation von Dämmningsverket AB mithilfe der US Army Corps of Engineers (SACE) Software HEC-RAS 6.3 zeigt ein Ernstfallszenario von Überflutungen nach einer Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine. Die Simulation wurde bereits im Oktober 2022 erstellt.

Dieser Screenshot aus einer Simulation von Dämmningsverket AB mithilfe der US Army Corps of Engineers (SACE) Software HEC-RAS 6.3 zeigt ein Ernstfallszenario von Überflutungen nach einer Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine. Die Simulation wurde bereits im Oktober 2022 erstellt.

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Am Dienstagmorgen hat es eine schwere Explosion am wichtigen Kachowka-Staudamm im Süden der Ukraine gegeben. Das bestätigten sowohl die Ukraine als auch Russland und gaben sich gegenseitig die Schuld an dem Vorfall. Infolge der Detonation sei auch das angrenzende Wasserkraftwerk zerstört worden.

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Befürchtet wird, dass der Bruch des Staudamms in der umkämpften Region Cherson zu massiven Überschwemmungen führt. Nach Angaben der örtlichen Behörden sind etwa 16.000 Menschen in der „kritischen Zone“ zu Hause. Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal sprach von einer Überschwemmungsgefahr für bis zu 80 Ortschaften. Die Zerstörung werde zu einer Umweltkatastrophe führen. Der Militärgouverneur des Gebiets, Olexander Prokudin, warnte, binnen fünf Stunden könne der Wasserstand eine kritische Höhe erreichen.

Kachowka-Staudamm im Süden der Ukraine zerstört

Die russischen Streitkräfte haben offenbar den Kachowka-Staudamm im Süden der Ukraine gesprengt.

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„Auf einem riesigen Territorium wird alles Leben zerstört“, schrieb Mychajlo Podoljak, Berater des ukrainischen Präsidenten, auf Twitter. „Viele Ortschaften werden zerstört; der Umwelt wird enormer Schaden zugefügt.“ Im Fernsehen fügte er hinzu, dass Russland mit dem Anschlag im umkämpften Gebiet Cherson die Initiative im Krieg wieder an sich reißen und die europäischen Staaten einschüchtern wolle. Das Gebiet ist zum größten Teil von russischen Truppen besetzt, sie kontrollieren auch das Kraftwerk und damit den Füllstand im Stausee. Die Gebietshauptstadt Cherson ist unter ukrainischer Kontrolle.

Umgesetzt habe die Sprengung des Wasserkraftwerks nach ersten Erkenntnissen die 205. Motorisierte Schützeneinheit der russischen Armee, sagte Podoljak. Der Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte deshalb mehr Tempo bei den westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine. Jeder müsse verstehen, dass es für Moskau keine roten Linien gebe.

Zerstörung am Kachowka-Staudamm: Modellierung zeigt Folgen des Ernstfalls

Diese Annahmen werden von der Modellierung eines Ernstfallszenarios bestätigt, die bereits im vergangenen Oktober veröffentlicht wurde. Das Modell wurde von der schwedischen Firma Dämningsverket AB mit einer Software des US-Militärs erstellt. Demzufolge würden innerhalb weniger Stunden weite Teile der Region sowie angrenzende Flüsse überflutet.

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Das ukrainische Militär begann auf der rechten Seite des Flusses Dnipro – wo auch die von den Ukrainern befreite Gebietshauptstadt Cherson liegt – mit Evakuierungen. Die russischen Besatzer hingegen machten ukrainischen Beschuss für die Schäden verantwortlich. Spekuliert wurde auch, dass der Damm aufgrund schlechter Wartung gebrochen sein könnte. Die Angaben beider Seiten konnten zunächst nicht unabhängig überprüft werden.

Bereits im vergangenen Oktober hatte der ukrainische Militärexperte Oleksij Melnyk vor verheerenden Folgen einer Sprengung des Staudamms gewarnt. Er befürchtete eine „humanitäre und technologische Katastrophe. Der russische Oppositionelle und Hydrogeologe Yuri Medovar erklärte gegenüber dem ukrainischen Internetportal „Obozrevatel“, dass eine Sprengung der Staumauer katastrophale Folgen „wie nach einem Tsunami“ hätte. „Die Tiefe des Damms beträgt 30 Meter, die Länge etwa vier Kilometer. Es wird eine Welle geben, die so hoch ist wie ein zehnstöckiges Gebäude.“

In Cherson steht das Wasser bereits hoch – Ukraine befürchtet Ölkatastrophe im Dnipro

Laut dem ukrainischen Ökonomen und Berater der Selenskyj-Regierung, Timofij Milowanow, ist die Stadt Cherson bereits überflutet. Der Höchststand des Wassers wird für 11 Uhr (Ortszeit) erwartet. Er glaube nicht, dass Russland die besetzten Gebiete ordnungsgemäß evakuieren werde, schreibt Milowanow auf Twitter. Zudem gebe es bereits Berichte über Minen, die durch die Fluten explodierten. „Der militärische Vorteil ist gering. Russland ist am Verlieren und will alles zerstören, was sich ihm in den Weg stellt. Sie haben ihre eigenen Verteidigungslinien auf dem linken Ufer überflutet. Ich hoffe, sie ziehen ab“, beendet er seinen Tweet.

Durch die Sprengung des Kachowka-Staudamms sind nach Angaben der ukrainischen Führung mindestens 150 Tonnen Maschinenöl in den Fluss Dnipro gelangt. 300 weitere Tonnen Öl drohten noch auszulaufen, hieß es am Dienstag am Rande einer von Präsident Wolodymyr Selenskyj einberufenen Sitzung des nationalen Sicherheitsrats. Der Gouverneur des Verwaltungsgebiete Cherson, Olexander Prokudin, berichtete von acht ganz oder teilweise überfluteten Ortschaften.

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Der von Russland eingesetzte Bürgermeister Wladimir Leontjew von Nowa Kachowka räumte ein, dass es auch zu Problemen bei der Wasserversorgung auf der bereits 2014 von Russland annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim kommen könnte, die südlich von Cherson liegt. Diese wird mit Wasser aus dem Kachowka-Stausee beliefert. In ukrainischen Medien und in sozialen Netzwerken wurden Videos geteilt, die dem Anschein nach bereits gestiegene Wasserstände um die Stadt Cherson zeigten. Auf Aufnahmen ist auch zu sehen, wie offenbar große Wassermengen aus der Mauer des Staudamms strömen. Die Echtheit der Videos konnte zunächst nicht unabhängig überprüft werden.

Kachowka-Stausee kühlt Atomkraftwerk Saporischschja

Der Kachowka-Staudamm liegt im von Russland besetzten Teil der südukrainischen Region Cherson. Das 1956 errichtete Bauwerk ist rund 3,6 Kilometer lang und 30 Meter hoch. Das Reservoir fasst rund 18 Milliarden Kubikmeter Wasser. Auch das Atomkraftwerk Saporischschja wird durch den Stausee versorgt. Die Internationale Atomeenergiebehörde IAEA sprach am Dienstag jedoch von „keinem unmittelbaren nuklearen Sicherheitsrisiko“ durch die Zerstörung am Kachowka-Staudamm. Experten der Behörde am Atomkraftwerk Saporischschja würden die Situation überwachen, schreibt die IAEA auf Twitter. Nach Angaben der Ukraine War Environmental Consequences Working Group, die mögliche Folgen des Krieges einschätzt, könnte eine vollständige Zerstörung der Staumauer dazu führen, dass kein Kühlwasser mehr für das Atomkraftwerk Saporischschja zur Verfügung steht.

Zudem spielt der Kachowka-Staudamm eine wichtige Rolle bei der Gewinnung von Energie. Auch ließen sich Klimaphänomene wie etwa Überschwemmungen im Frühjahr oder Dürreperioden leichter regulieren. Bei Hochwasser wird beispielsweise der Stausee leicht abgelassen, damit er zusätzliches Wasser aufnehmen kann. Zudem lässt sich rund um die Talsperre Wein, Obst oder Reis anbauen. Sollte Russland für die Sprengung verantwortlich sein, würde sich die Zerstörung am Kachowka-Staudamm in die Angriffe auf die kritische Infrastruktur in die Ukraine einreihen – wäre jedoch der bisher folgenreichste Fall.

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Russland hatte das Nachbarland Ukraine vor mehr als 15 Monaten überfallen und im Zuge seines Angriffskriegs auch das Gebiet Cherson besetzt. Im vergangenen Herbst gelang der ukrainischen Armee die Befreiung eines Teils der Region – auch der gleichnamigen Gebietshauptstadt, Städte südlich des Dnipro blieben allerdings unter russischer Kontrolle, darunter auch die Staudammstadt Nowa Kachowka. Immer wieder hatten die Ukrainer vor einem möglichen Sabotageakt der Russen in Nowa Kachowka gewarnt. Für besondere Beunruhigung sorgte, als die Besatzer im November die Evakuierung der Stadt ankündigten.

RND/sic/dpa/AP

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