Ein Jahr Krieg – (k)ein Ende in Sicht?
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Die Kämpfe in Saporischschja halten auch im Januar 2023 noch an.
© Quelle: IMAGO/ITAR-TASS
Als ein unabhängiges Onlinemedium vor wenigen Tagen mit Abgeordneten der russischen Staatsduma sprach, waren sich die Politikerinnen und Politiker einig: Die sogenannte Spezialoperation in der Ukraine müsse noch in diesem Jahr beendet werden. „Wir sind bereit, zu unseren Bedingungen zu verhandeln“, sagt der Duma-Abgeordnete Nikolai Nowitschkow. Man wolle den Sieg. „Sobald das Kiewer Regime nicht mehr mit Waffen vollgepumpt wird, wird in der Ukraine sehr schnell Ruhe einkehren.“
Westliche Expertinnen und Experten bestätigen: Ohne die westlichen Waffenlieferungen hätte die Ukraine viele Gebiete nicht zurückerobern können und hätte vielleicht sogar kapitulieren müssen. Doch von „Ruhe“ kann keine Rede sein. Die Gräueltaten in den besetzten Städten Butscha, Irpin und Isjum haben gezeigt, dass die russische Besatzung Unterdrückung, Terror und Tod für die ukrainische Bevölkerung bedeutet. Deshalb wollen die ukrainischen Streitkräfte weiterhin besetzte Gebiete zurückerobern. Ist ein Ende des Krieges also nicht in Sicht?
Von Flucht, Hoffnung und einem neuen Leben in Deutschland
Ein Jahr lang steht die Zeit für unzählige Ukrainerinnen und Ukrainer still. Einige können trotzdem schon wieder Hoffnung für die Zukunft schöpfen.
© Quelle: RND
„Russland kann nur gewinnen, wenn der Westen die Ukraine nicht mehr unterstützt“, sagt Thomas Jäger, Professor für internationale Politik und Außenpolitik an der Universität Köln. Dass der Westen seine Waffenlieferungen reduziert, glaubt er allerdings nicht. „Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht“, sagt Jäger. Er sieht weder auf russischer Seite den Willen zur Eskalation noch auf ukrainischer Seite die Fähigkeit dazu. „Solange die Ukraine Waffen aus dem Westen bekommt und Russland genügend Waffen produzieren kann, wird der Krieg auf dieser Eskalationsstufe weitergehen.“
Die Ukraine möchte ihr gesamtes Territorium wieder in Besitz nehmen und Russland ist nicht bereit, eine eigene Niederlage oder gar Kapitulation zu akzeptieren. Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer sieht zwei Optionen für den Westen, wie der Krieg schnell beendet werden kann. Die erste Option ist eine massive Unterstützung der Ukraine, die weit über das hinaus geht, was man bisher getan hat. „Dazu zählen vor allem die Lieferung von Mitteln der Land- und Luftkriegsführung, wie Panzer, Kampfschützenpanzer, Kampfflugzeuge, bewaffnete Drohnen, weitreichende Boden-Boden-Raketen“, erklärt Reisner. „Ziel ist die Zurückdrängung Russlands aus den von ihm in der Ukraine besetzten Gebieten.“
Wenn dem Westen diese massive Unterstützung der Ukraine zu riskant erscheint, wenn man sich nicht einig ist, wie man vorgehen soll, oder wenn man mangels Ressourcen dazu nicht in der Lage ist, dann muss der Westen laut Reisner versuchen, Russland einen gesichtswahrenden Ausstieg aus dem aktuellen Kriegsverlauf zu ermöglichen. „Auch gegen den Willen der Ukraine.“ Denkbar ist dann ein Einfrieren des Konflikts entlang der derzeitigen Frontlinien, was aber die Zustimmung von Kiew und Moskau voraussetzt. „Dies kommt einer Niederlage des Westens gleich“, macht Reisner deutlich. Außerdem würde dies weiteres Leid für die Menschen in den besetzten Gebieten bedeuten.
Für Deutschland und die anderen westlichen Partner der Ukraine gibt es eine Vielzahl von Gründen, warum die Ukraine diesen Krieg gewinnen und Russland verlieren muss. Ein Sieg Russlands würde die Botschaft aussenden, dass es sich lohnt, Krieg zu führen. Das wäre sicherheitspolitisch fatal und bärge die Gefahr, dass Moskau als Nächstes Moldau angreift. Für China ist Russlands Krieg gegen die Ukraine längst zum Testballon geworden, wie die internationale Gemeinschaft auf einen solchen Regelbruch reagiert und ob es möglich ist, als Staat seine Interessen mit Krieg durchzusetzen. Zur internationalen Perspektive kommt eine normative hinzu: Gelten internationale Regeln und Gesetze für alle Staaten, auch für die mit einer starken Armee? Oder gilt in Europa wieder das Recht des Stärkeren, wo größere Staaten mehr Rechte als kleinere haben? Für Deutschland wäre es auch wirtschaftspolitisch sinnvoll, wenn Russland den Krieg verlöre. Dies würde zu internationaler Stabilität und Ordnung beitragen, von der die deutsche Wirtschaft und der Wohlstand in der Bundesrepublik profitieren.
Eines Tages wird es zu Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine kommen. Ob es dabei um Reparationszahlungen, die Auslieferung von Kriegsverbrechern oder den künftigen Grenzverlauf gehen wird, hängt maßgeblich von den militärischen Erfolgen der Ukraine ab. „Wenn die russischen Streitkräfte erkennen, dass sie ihre Stellungen nicht mehr halten können oder wenn sie sich fluchtartig zurückziehen, wird Russland ernsthafte Gespräche anbieten müssen“, sagt Experte Jäger. Für ihn ist jedoch klar, dass sich niemand auf das Stück Papier verlassen wird, das Russland am Ende der Verhandlungen unterschreibt. Die Ukraine benötige daher Sicherheitsgarantien. „Mit der Entscheidung, Mitglied der EU zu werden, ist aus meiner Sicht auch die Entscheidung gefallen, dass die Ukraine eines Tages in die Nato aufgenommen wird“, sagt Jäger im Gespräch mit dem RND.
Der Zeitpunkt von Verhandlungen ist für Jäger und Reisner derzeit nicht in Sicht. „Solange von beiden Seiten die Maximalforderung der Kapitulation des jeweils anderen als strategisches Endziel besteht, dient die Diplomatie nur einem gegenseitigen ‚Abtasten‘, während die jeweiligen Streitkräfte versuchen, durch einen immer neuen Reserveneinsatz eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld zu erzielen“, sagt Oberst Reisner. Die Verluste des Krieges sind bereits hoch, aber auf beiden Seiten sei „noch nicht die Grenze des Erträglichen erreicht“.