„Protest-Wiki“ im Internet: Wie die Letzte Generation ihre bisher größte Aktion vorbereitet
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Aktivisten der Klimaschutzgruppe Letzte Generation bei einer Protestaktion in Berlin vor dem Bundeskanzleramt (Archivbild).
© Quelle: picture alliance / PIC ONE
Berlin. Es ist ein kurzes Video. Ein junger Mann in einer Latzhose und mit einer Perlenkette steht vor einem Bildschirm. Er schaut freundlich in die Kamera. In den folgenden knapp drei Minuten erklärt er, wie sich Aktivistinnen und Aktivisten der Letzten Generation in den kommenden Tagen in Berlin zurechtfinden und wo sie am Ende eines Protesttages unterkommen können. Dort soll ab dem 19. April die gesamte Stadt ins Stocken kommen.
Die Aktivistinnen und Aktivisten der Letzten Generation haben angekündigt, Berlin mit verschiedenen Protesten lahmzulegen. Es ist die bisher größte Aktion der Klimaaktivisten. Die Hauptstadt soll mehrere Wochen blockiert werden. Wie planen die Mitglieder der Letzten Generation ihre Proteste? Und wie sind sie organisiert?
„Jetzt kommt der Fun-Part: Ihr müsst einfach trainieren“
Wer nach Berlin kommt, der weiß genau, wo und wie er sich zurechtfinden kann. Dafür sorgt ein ausführliches und fast endlos wirkendes „Letzte Generation Wiki“. Die Protestgruppe der Letzten Generation gibt es erst seit 2021. Nach weniger als zwei Jahren ist sie aber höchst professionell aufstellt. Das zeigt nicht nur das kurze Video des jungen Aktivisten, sondern auch das eigene Glossar. Das „Letzte Generation Wiki“ ist aufgebaut wie eine Übersichtsseite, auf der sich durch verschiedene Ordner mit den Titeln „Legal Wiki“, „Protestplanung“ oder „Mobilisierung“ vieles über die Organisation der Gruppe lesen lässt. Der Zugang zu den Texten ist öffentlich, die Aktivistinnen und Aktivisten wollen ihr Wissen allen zugänglich machen, die sich der Gruppe anschließen wollen.
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Für die geplante Protestwelle in Berlin stellen sie auf der Seite klar: „Die Proteste werden mehrere Wochen andauern“, eine Anreise sei also auch später möglich. Ab 17. April könne man per Mitfahrgelegenheit oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen, für eine Unterkunft sei gesorgt. Wie viele Aktivistinnen und Aktivisten tatsächlich nach Berlin kommen, ist noch unklar. Laut Angaben der Letzten Generation haben sich bis Dienstag auf der Webseite über 840 Personen angekündigt. Gemeinsam wolle man den Protest so lange fortsetzen, bis die Bundesregierung die Forderungen der Gruppe umgesetzt und einen Gesellschaftsrat einberufen oder einen umfassenden Plan zur Erreichung des 1,5-Grad-Ziels vorlegt hat, sagte Sprecherin Carla Hinrichs am Dienstag auf einer Pressekonferenz.
Auch weitere Vorkehrungen sind bereits getroffen. Einmal am Tag soll es in einer KüfA (Küche für Alle) warmes Essen geben. Vor Ort sollen sich sogenannte Bezugsgruppen mit jeweils zehn bis 15 Teilnehmenden bilden. Anschließend sollen sich die neuen Aktivistinnen und Aktivisten im „Protestportal“ anmelden, sodass die Gruppe Bescheid weiß, falls jemand in Gewahrsam genommen wird oder es einen Notfall gibt. Ein Eintrag im „Legal-Wiki“ kümmert sich um mögliche rechtliche Konsequenzen und wie damit umgegangen werden kann. „Das war jetzt eher organisatorisch, jetzt kommt eher so der Fun-Part“, sagt der junge Aktivist im Video. „Ihr müsst einfach trainieren.“
Verkehrsminister Wissing kritisiert Letzte Generation scharf
Kurz vor neu angekündigten Blockadeaktionen in Berlin hat Bundesverkehrsminister der Klimagruppe Letzte Generation mangelnde Gesprächsbereitschaft vorgeworfen.
© Quelle: dpa
Von Hummeln, Bienen und der Bienenkönigin
Bevor sich ein Interessierter als Teil der Letzten Generation verstehen kann, muss er mindestens an einem Protesttraining teilgenommen haben. Das helfe der eigenen Sicherheit und sei „wichtig für den Erfolg unserer Proteste“. Die Schulungen finden sowohl vor Ort als auch online statt. Einige lassen sich auf Youtube nachschauen. Sie dauern zwischen zwei bis sechs Stunden, je nachdem, ob ein kurzes oder langes Training absolviert wird. Dort lerne man „ganz praktisch, wie eine Straßenblockade abläuft“ und kann „Finger probekleben“.
Es gibt weitere Trainings für Gespräche mit der Presse, emotionale Unterstützung oder die Fortbildung als sogenannte Bienenkönigin, kurz BiKö. Sie übernimmt die Koordination der jeweiligen Bezugsgruppe und ist die Ansprechpartnerin für die Bienen, die „normalen“ Mitglieder in der Gruppe. Pro Bezugsgruppe soll es mindestens zwei Bienenköniginnen geben. Neben Bienen und Bienenköniginnen geben noch weitere Insekten den Aktivistinnen und Aktivisten Namen und vor allem Struktur. Sogenannte Hummeln sollen die Protestierenden bei ihren Aktionen unterstützen, indem sie beispielsweise Flyer verteilen oder Fotos und Videoaufnahmen machen.
Wildbienen sind der Seite zufolge die überzeugtesten Aktivistinnen und Aktivisten: Sie haben sich mit finanziellen Konsequenzen, einer möglichen Verschuldung und Pfändung auseinandergesetzt und der Möglichkeit, in Polizeigewahrsam und U-Haft zu kommen. Sie sind „reich an Überzeugung, arm, was Geld angeht. Sie vergraben ihr Hab und Gut im Boden, damit niemand anderes es findet.“
„Die Presse ist nicht unser Freund“
Wie riskant besonders die Klebeaktionen sind, wurde gerade in Heilbronn deutlich: Das Amtsgericht verurteilte zwei Männer und eine Frau wegen Nötigung zu Freiheitsstrafen von fünf, vier und drei Monaten ohne Bewährung. Das Urteil ist laut Staatsanwaltschaft und Aktivistinnen und Aktivisten das bislang härteste, das in Deutschland gegen Mitglieder der Letzten Generation verhängt wurde.
Die Staatsanwaltschaft Neuruppin ermittelt bundesweit gegen Mitglieder der Letzten Generation wegen des Verdachts der „Bildung einer kriminellen Vereinigung“. Mit einer möglichen Anklageerhebung wird nach RND-Informationen nicht vor dem Sommer gerechnet.
Die Überzeugung für ihre Aktionen liest sich in jedem einzelnen Beitrag auf der Seite. So gibt es beispielsweise eine Art Verhaltenskodex, wie die Gruppe nach außen auftritt: „Wir ertragen Gewalt bei uns selbst und bei anderen ruhig und schreien nicht“, „Wir achten, wenn möglich auch auf bürgerliche Kleidung“, „Wir lassen alle Einsatzfahrzeuge mit Blaulicht durch“. Auch zum Umgang mit der Presse gibt es eine eigene Seite im Glossar, sowie eine eigene Excel-Datei, in der Anfragen von Medien farblich sortiert werden, je nachdem, welche Punkte noch offen sind. Und: „Wichtig! Presse ist nicht unser Freund.“ Jedes Interview sei eine Aktion, um die Klimakrise in die Öffentlichkeit zu bringen.
Organisiert wie ein Bienenvolk
Um Aufmerksamkeit zu bekommen, lassen sich die Aktivistinnen und Aktivisten immer wieder neue Protestaktionen auffallen. So stehen auf der Seite mögliche Aktionen, wie beispielsweise das Herbeiführen des Tempolimits von 100 Kilometern pro Stunde. Indem drei Fahrzeuge parallel nebeneinander herfahren und so die Autobahn blockieren, soll auf das geforderte Tempolimit aufmerksam gemacht werden. Auch Anleitungen für weitere Klebeaktionen mit Superkleber oder einer Fingerlock, eine Art Rohr, das zwei Finger verklebt, sowie ein „How-to-fake-Öl“ finden sich auf der Wiki-Seite.
Aktivisten beschmieren Eingangsbereich der FDP-Parteizentrale in Berlin mit ölähnlicher Flüssigkeit
Letzte Generation haben mit einer ölähnlichen Flüssigkeit den kompletten Eingangsbereich der FDP-Bundesgeschäftsstelle in Berlin-Mitte beschmiert.
© Quelle: dpa
Aufmerksamkeit erlangten die Aktivistinnen und Aktivisten vor allem mit Blockaden von (Stadt-)Autobahnen, Brücken und stark frequentierten Verkehrsadern. Dass diese Aktionen nicht einfach nur beinhalten, sich auf die Straße zu setzen oder zu kleben, zeigt der Reiter „Protestplanung“. Vor jeder Aktion sollen die Standorte besonders gut ausgekundschaftet werden: „Ist der Ort ohne Gefährdung von uns oder anderen blockierbar?“, „Krankenhäuser in der Nähe meiden“, „Verkehrsaufkommen bei Google Maps raussuchen“. Die jeweiligen Banner, Westen und auch der berühmte Sekundenkleber (mindestens zwei Tuben pro Person) soll spätestens eine Woche vorher bei „Mario“ oder der „Logistik AG“ bestellt werden können. Alles läuft über ein Formular, das aber nicht ohne Anmeldung sichtbar ist.
Um so wenige Spuren wie möglich für eventuelle Ermittlungen zu hinterlassen, bekommt jede „Bienenkönigin“ ein Aktionshandy, das eine nicht registrierte Sim-Karte und keine persönlichen Informationen enthält sowie durch einen Code gesperrt ist. Private Handys sind bei den Aktionen verboten.
Über Telegram immer in Kontakt
Während der Aktionen halten sich die Protestierenden vor allem über Kanäle auf den Messaging-Plattformen Telegram und Signal auf dem Laufenden. Es gibt Gruppen, in denen nur die Proteste in Berlin koordiniert werden, aber auch welche, die „Mut und Vertrauen bilden“ sollen oder eine Art Liveticker sind, welche Aktionen gerade stattfinden. Welche die Letzte Generation in den kommenden Wochen in Berlin umsetzten wird, bleibt offen. Klar ist aber, dass die Aktivistinnen und Aktivisten nicht ohne Plan anreisen – und dabei geschäftig sind wie ein Bienenvolk.