Memorial: Warum der Kreml Russlands wichtigste Menschenrechtshüterin liquidiert
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Am 13. Dezember demonstrierten Unterstützer von Memorial in Berlin vor der russischen Botschaft gegen das geplante Verbot der Menschrechtsorganisation. Auch am Montag gab es wieder eine Protestdemo.
© Quelle: Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur
Berlin. Ein russisches Gericht hat am Montag das Strafmaß für den Menschenrechtler Juri Dmitrijew in einem international kritisierten Prozess erneut verschärft. Der 65 Jahre alte Historiker müsse nun 15 Jahre in ein Straflager, urteilte eine Richterin in der Stadt Petrosawodsk.
Vor mehr als einem Jahr war er zu 13 Jahren Haft verurteilt worden. Der Historiker hatte für die Menschenrechtsorganisation Memorial gearbeitet und Verbrechen unter Sowjetdiktator Josef Stalin öffentlich gemacht.
In dieser Woche ging es den russischen Strafverfolgern nicht mehr nur um Einzelpersonen, sondern um die Zerschlagung ganzer Organisationen. Ungeachtet internationaler Kritik lief seit Wochen vor einem Gericht in Moskau ein Prozess gegen Memorial International. Am Dienstag wurde dann das Urteil gefällt, dass Memorial aufgelöst werden muss.
Die renommierte Organisation war 1988 in Moskau noch von Sowjetdissident und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow (1921–1989) mitbegründet worden und hat sich seitdem die Aufarbeitung politischer Gewaltherrschaft auf die Fahne geschrieben.
Politische Entscheidung
In dem Prozess gegen Memorial gehe es um eine politische Entscheidung, sagte Anke Giesen, Mitglied im Vorstand von Memorial International, im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Mit Rechtsprechung habe das überhaupt nichts zu tun.
Verhandelt wurde in Moskau ein Antrag der Staatsanwaltschaft auf Liquidierung von Memorial. Angeblich leistet der Verband „Extremismus“ und „Terrorismus“ Vorschub, hat grob und anhaltend gegen die Vorschriften des „Agentengesetzes“ verstoßen und Veröffentlichungen nicht gekennzeichnet.
Seit 2016 ist Memorial als „ausländischer Agent“ eingestuft, was für alle Nichtregierungsorganisationen (NGO) gilt, die finanzielle Zuwendungen aus dem Westen erhalten. Deshalb müssen Bücher, Zeitschriften oder Flyer mit dem Stempel „Ausländischer Agent“ versehen werden.
Das gilt auch für Publikationen, die vor dem „Agentenerlass“ erschienen sind. Sie müssen quasi rückwirkend gekennzeichnet werden, was schon rein organisatorisch nicht immer zu leisten sei, wie Anke Giesen berichtet. Auch alte Veröffentlichungen auf Websites im Internet müssen im Nachhinein als „Agent“ deklariert werden.
„Unsere russischen Kollegen gehen davon aus, dass die Staatsmacht beschlossen hat, den Dachverband Memorial International und auch das dazugehörige Menschenrechtszentrum zu liquidieren, sagte Giesen. Damit stünden dann wohl bald auch die über 80 Regionalvereine in ganz Russland zur Disposition, die in den zurückliegenden Jahren Großes bei der Öffnung der Archive und der Aufklärung zahlloser Schicksale geleistet haben.
Rückschlag für Forschung
Schon jetzt sei die Forschungsarbeit massiv erschwert, und es gebe eine Menge Akten, die für Wissenschaftler gar nicht mehr zugänglich seien, erläutert Giesen. Dabei sei es ungeheuer wichtig, die Dokumente zu digitalisieren, damit sie der Forschung erhalten bleiben.
Doch seitdem in Russland eine nationalistische Rückbesinnung mit Bezug zum Zarenreich und zur Sowjetunion um sich greift, treten die Verbrechen der Stalin-Ära in den Hintergrund, und heutige Menschenrechtsverletzungen werden als Propaganda ausländischer Mächte gebrandmarkt.
Die Grande Dame der russischen Menschenrechtsbewegung, die Germanistin Irina Scherbakowa (72), gehört zu den Gründungsmitgliedern von Memorial und hatte in den 1990er-Jahren große Hoffnung auf eine demokratische Entwicklung in Russland gesetzt. Jetzt ist auch sie desillusioniert: „Wir leben schon in einer Diktatur“, sagte sie im Sommer in einem Interview mit dem Deutschlandfunk.
Zuletzt fanden vor russischen Botschaften in Prag, Straßburg oder Berlin Proteste gegen die Liquidierung von Memorial statt, erst am Montag wieder in der Bundeshauptstadt. Dass das Oberste Gericht in Moskau sich davon nicht beeindrucken ließ, ist inzwischen Gewissheit. Schon für Dienstag war ein weiterer Verhandlungstag angesetzt und das Urteil rasch verkündet.
Verfahren hatte zuletzt gestockt
Die Moskauer Politologin Lilia Schewtsowa bezweifelte sogar, ob der Prozess überhaupt zu Ende geführt wird. „Mir kommt es so vor“, sagte sie dem RND während des laufenden Prozesses, „als ob diejenigen, die für das Verfahren verantwortlich sind, noch keine endgültige Anweisung erhalten haben. Ich würde es einen Stau im Entscheidungsfindungsprozess nennen.“
Dass das Verfahren gegen Memorial zwischenzeitlich stockte, könnte damit zusammenhängen, dass den Strafverfolgern immer klarer wurde, dass sie sich bei einem Verbot der angesehensten Menschenrechtsorganisation Russlands gehörig mit der Zivilgesellschaft anlegen würden, sogar mit jenen Teilen, die staatstreu sind.
Die angesehene Dichterin Olga Sedakowa, die in der Sowjetunion einem Publikationsverbot unterlag und nach 1989 mit Literaturpreisen überhäuft wurde, kam extra vor das Gerichtsgebäude, als am 25. November gegen Memorial International verhandelt werden sollte. Sie hält es für essenziell, dass die Repression in der Sowjetzeit weiter aufgearbeitet wird, und wollte das vor Gericht bezeugen. Doch sie wurde nicht vorgelassen.
„Es wurde mir verweigert, als Zeugin aufzutreten“, sagte sie russischen Medien. „Deswegen möchte ich hier zum Ausdruck bringen, was für eine großartige Sache Memorial darstellt.“ Allein schon die Aktion „Wiederkehr der Namen“, bei der an jedem 29. Oktober in Moskau zwölf Stunden lang die Namen von Opfern der Stalin-Diktatur vorgelesen werden, sei wie ein warmer Wind, der die Erinnerung an all die verschiedenen Opfer in die Welt hinausträgt und ihnen damit Geltung verschafft.
Schaden für Russland
Wiktor Bulgakow, der selbst in einem Gulag-Bergwerk schuftete, zeigte sich empört über das Vorhaben, Memorial aufzulösen. „Sie behaupten, dass sie ihr Heimatland aus ganzem Herzen lieben“, sagt der 90-Jährige, „doch in Wahrheit fügen sie Russland Schaden zu, wenn sie in Zukunft keine verlässlichen Informationen mehr zulassen wollen.“
Oleg Batow, Erzpriester in der Kirche der Himmelfahrt der seligen Jungfrau Maria in Moskau, ist sich sicher, dass es in seiner eigenen Familie Opfer des Stalinismus gibt, die er nicht kennt. „Das ist kein Wunder“, sagt der Kleriker, „denn viele der Unterdrückten blieben still.“ Für ihn als Geistlichen sei es aber wichtig, dass die Erinnerung an das, was geschehen sei, wachgehalten werde.
„Im Verfahren gegen Memorial wurde von der Staatsanwaltschaft angeführt, dass dies eine Organisation sei, die die öffentliche Sicherheit gefährde“, sagt er. „Das ist eine Sprache, die meinen Werten in keiner Weise entspricht.“