„Die Herzenskälte von Zollitsch hat mich schockiert“
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Der frühere Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz und ehemalige Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch.
© Quelle: picture alliance / Winfried Rothermel
591 Seiten ist der Missbrauchsbericht für das Erzbistum Freiburg lang, der am Dienstag veröffentlicht wurde. 681‑mal taucht der Name Zollitsch auf. Robert Zollitsch ist nicht irgendjemand. 2003 bis 2014 war er Erzbischof von Freiburg, von 2008 bis 2014 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. In seine Zeit fällt die Aufdeckung der Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg, die den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche ins Rollen brachte. Das Erzbistum Freiburg erlebt nun ein Beben.
Die Vorwürfe wiegen schwer. So schwer wie in kaum einem anderen Missbrauchsbericht. Dem inzwischen emeritierten Erzbischof Zollitsch und seinem Vorgänger, dem bereits verstorbenen Erzbischof Oskar Saier, wird eine „massive Vertuschung“ der Missbrauchsfälle vorgeworfen. Mehr als 250 Priester werden als mögliche Täter ausgemacht, die sich an mindestens 540 Kindern und Jugendlichen vergangen haben sollen. Das Dunkelfeld dürfte noch viel größer ein. Saier und Zollitsch sollen die Taten der Priester nicht weiter verfolgt haben, im Gegenteil. Zollitsch habe erst als Personalchef und später als Erzbischof alles getan, um beschuldigte Priester zu schützen. Oft seien Priester einfach in andere Gemeinden versetzt worden, so die Autoren des Berichts, in anderen Fällen wurden sie beurlaubt. Die betroffenen Gemeinden seien nicht informiert worden und auch Hilfe für Betroffene habe es nicht gegeben. „Sie wurden allein gelassen.“
„Die aufgedeckten Missstände sind gravierend“, sagt der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Inhaltlich überraschen den Experten die Ergebnisse jedoch kaum. „Aber erschreckend ist die völlige Ignoranz von Zollitsch, der als einer der dienstältesten Personalchefs schlimmste Missbrauchsfälle gedeckt und Täter geschützt hat.“ Die Juristen sprachen bei der Vorstellung des Berichts vom „Vollbild einer Vertuschung“.
Brisant ist auch, dass Zollitsch das Kirchenrecht vollständig ignoriert haben soll. Seit 2001 ist vorgeschrieben, dass Missbrauchsfälle der Glaubenskongregation in Rom gemeldet werden müssen. Zollitsch soll jedoch keinen einzigen Fall gemeldet haben, im Bericht werfen ihm die Juristen eine „Missachtung der Unterrichtungspflicht gegenüber der Glaubenskongregation“ vor. Es habe eine „jahrelange ausnahmslose Nullbilanz“ gegeben, so der Bericht, was in Rom eigentlich hätte auffallen müssen. In anderen Fällen soll Zollitsch das Kirchenrecht dagegen nicht ignoriert haben, etwa wenn ein Priester ein Verhältnis mit einer erwachsenen Frau einging. „Offensichtlich war jener Erzbischof der Ansicht, einvernehmliche sexuelle Verhältnisse seien strafverfolgungswürdiger als der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen“, so das Fazit im Bericht.
Missbrauchsopfer berichtet über sein Martyrium
Die Kirche gab Michael S. damals Halt. Doch dann brach ein Martyrium über ihn herein. In den 70er-Jahren wurde der heute 55-Jährige dutzendfach missbraucht. Bis heute leidet der Mann unter den seelischen Folgen. Nun kehrte S. das erste Mal nach 30 Jahren zurück in seine alte Heimat.
Kirchenrechtler: Zollitschs Verhalten „beschämend“
Dass sich Zollitsch mit dem Thema Missbrauch befasst habe, ist laut dem Bericht nur Fassade gewesen. Kirchenrechtler Schüller bezeichnete Zollitschs Verhalten als „beschämend“ und sagte: „Die Herzenskälte von Zollitsch hat mich schockiert.“ Der heute 85‑Jährige musste gegen Ende des Zweiten Weltkrieges als Teil der deutschstämmigen Minderheit im ehemaligen Jugoslawien schwerste Gewalt miterleben. Schüller meint: „Es ist erbärmlich, dass er die sexualisierte Gewalt später so heruntergespielt hat.“
Der heutige Erzbischof Stephan Burger hat Zollitsch nun in Rom angezeigt. Der Bericht habe ein „Versagen kirchlicher Strukturen“ aufgedeckt, so Burger, der sich fassungslos zeigte. Burgers Meldung nach Rom hat „eine neue Qualität“, so die Einschätzung von Schüller. „Das ist ein Fall, in dem der Vatikan Zollitsch bischöfliche Rechte entziehen könnte.“ Da Rom das Kirchenrecht aber sehr volatil anwende, könne es auch anders kommen. „Angesichts der schwerwiegenden und jahrelangen Missachtung des Kirchenrechts kann ich mir aber vorstellen, dass Rom Zollitsch die öffentliche Ausübung seiner Rechte aus der Bischofsweihe untersagt.“ Das hätte vor allem eine symbolische Wirkung. „Rom könnte ihm öffentliche Auftritte verbieten“, so der Experte, im Amt ist er ohnehin nicht mehr. Im Kirchenrecht ist die aktive Vertuschung zwar ein Straftatbestand. Eine Entlassung aus dem Klerikerstand sieht dies aber nicht vor. „Dafür müsste Zollitsch selbst an Missbrauch beteiligt gewesen sein“, so Schüller.
Zollitsch ließ über einen Anwalt mitteilen, dass er sich zu dem Missbrauchsbericht zunächst nicht äußern wolle. Im Oktober hatte er sich jedoch bereits in einem Video an die Öffentlichkeit gewandt und „gravierende Fehler“ zugegeben. „Ich habe das große Ausmaß und vor allem die Folgen für die Betroffenen der Verbrechen sexualisierter Gewalt und des Missbrauchs nicht erfasst und der Wahrheit nicht ins Auge geschaut“, sagte Zollitsch im Herbst.
Der Betroffenenbeirat forderte nach der Vorstellung des Berichts Konsequenzen. Es müsse untersucht werden, wie sich die nun offengelegte Vertuschung auf die Biografien der Opfer ausgewirkt habe und welche Schäden ihnen dadurch zugefügt wurden.
Bei dem am Dienstag vorgestellten Bericht handelt es sich ausdrücklich nicht um ein Gutachten, da nicht alle Fälle des Erzbistums untersucht wurden. Es wurden mehr als 20 Fälle herausgegriffen und die systematische Vertuschung von Missbrauchsfällen analysiert. Zuvor haben bereits andere Bistümer in Deutschland externe Untersuchungen in Auftrag gegeben, um das Ausmaß des Missbrauchs aufzuarbeiten.