Wenn Normalbürger unter Sanktionen leiden: „Wir haben alle Angst“
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Zahlreiche Modemarken haben ihr Russland-Geschäft auf Eis gelegt. In dieser Shoppingmall in Sankt Petersburg sind viele Läden derzeit geschlossen.
© Quelle: -/AP/dpa
Bevor Wladimir Putin am 24. Februar den Befehl zum russischen Einmarsch in die Ukraine gab, führte Natalia ein gutes Leben in Sankt Petersburg. Die 25‑Jährige hatte bis dahin internationale Studierende in Russisch unterrichtet. „Ich wollte die Menschen von Russland begeistern“, erzählt sie. Sie habe den Leuten erklärt, dass Russland nicht so schlecht sei und dass man es am besten besuchen und selbst urteilen solle.
Mittlerweile dauern die Kämpfe in der Ukraine bereits über einen Monat an, Natalia hat ihren Job verloren – und ihre Hoffnung auf eine Zukunft in Russland. „Ich fühle mich diesem Land nicht mehr zugehörig“, sagt sie.
Kein Geld mehr aus dem Ausland
Weil Russland völkerrechtswidrig einen souveränen Staat angegriffen hat, Krankenhäuser bombardiert und ganze Städte dem Erdboden gleichmacht, haben die westlichen Staaten zahlreiche Sanktionen beschlossen, um Wladimir Putin zum Einlenken zu bewegen. Seit Anfang März schließt die Europäische Union sieben russische Banken vom Kommunikationssystem Swift aus. Die Banken und ihre Kunden sind damit vom internationalen Zahlungsverkehr abgeschnitten. Auch die digitalen Bezahlsysteme von Google, Apple und Paypal funktionieren nicht mehr.
Die Swift-Sanktion zieht Natalia den finanziellen Boden unter den Füßen weg. „Viele Studierende haben das Land verlassen. Diejenigen, die im nächsten Semester da sein sollten, sind gar nicht erst gekommen“, sagt sie. Ihr bleibt nur noch Onlineunterricht. Doch ihre Schüler können sie nicht bezahlen, ihre Bank ist von den Sanktionen betroffen und kann kein Geld aus dem Ausland empfangen.
Die Preise steigen immer weiter
Selbst wenn ihre Schüler das Geld senden könnten: Kaufen kann sich Natalia nicht viel davon. Der Rubel ist nicht mehr viel wert, die Inflation in Russland schießt in die Höhe. Manche Experten schätzen, dass sie Ende des Jahres bei bis zu 40 Prozent liegen wird. Natalia erzählt, dass ihre alltäglichen Einkäufe mittlerweile doppelt so teuer sind wie vorher.
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Außerdem haben zahlreiche Unternehmen ihr Russland-Geschäft ausgesetzt. Es gibt keine Musik und keine Podcasts mehr von Spotify, keine Serien und Filme auf Netflix oder Amazon Prime, keine Möbel von Ikea, keine Burger bei McDonald’s und keine Playstation von Sony. BMW und Volkswagen haben ihre Produktion unterbrochen und Lieferungen gestoppt. Obi hat den russischen Markt sogar endgültig verlassen.
„Putin interessiert sich nicht für Playstations“
Natalia schmerzen diese Einschnitte. „Putin interessiert sich nicht für Spiele im Playstation-Store oder für Musik auf Spotify“, sagt sie. Für viele Russen seien aber eben diese Plattformen der einzige Weg gewesen, der deprimierenden politischen Lage zu entkommen. Sie ist sich nicht sicher, ob der Rückzug der westlichen Unternehmen der richtige Weg ist. „Nur wenn die Sanktionen den Krieg stoppen können, glaube ich, dass sie berechtigt sind.“
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Sanktionen gegen Superreiche: Die Yacht eines russischen Geschäftsmanns in London wird konfisziert.
© Quelle: IMAGO/Cover-Images
Ari sieht das anders. Die Studentin aus Sankt Petersburg stören die Sanktionen nicht. „Mir ist egal, dass McDonald’s und Ikea geschlossen haben“, sagt sie. Vielmehr seien die Trauer und der Schock über den Krieg bei ihr und ihren Freunden beherrschend. „Wir haben alle Angst vor der Zukunft“, erzählt sie. Sie sieht keine Zukunft mehr in Russland.
Die Repression nimmt zu
Das hat damit zu tun, dass die Meinungsfreiheit in Russland mit dem Krieg noch stärker eingeschränkt wurde. Niemand darf dort den Krieg gegen die Ukraine einen Krieg nennen. Wer es tut, macht sich strafbar.
Das betrifft auch die Berichterstattung der Medien. Einige der wenigen verbliebenen regierungskritischen Medien stellen ihren Betrieb ein, wie zuletzt die „Nowaja Gaseta“. Außerdem wurden Facebook und Instagram als extremistisch eingestuft und blockiert. Zuvor hatte deren Mutterkonzern Meta angekündigt, Gewaltaufrufe gegen russische Truppen auf den Plattformen nicht zu löschen.
Wer öffentlich den Krieg kritisiert, riskiert, festgenommen zu werden. Natalia war in der ersten Woche des Krieges täglich auf Demonstrationen. „Ich habe gesehen, wie Demonstrierende geschlagen und festgenommen wurden, und bin selbst vor der Polizei weggerannt“, erzählt sie. Nun ist ihr die Situation zu gefährlich.
„Keiner mit Selbstachtung kann da arbeiten“
Maria aus Moskau haben die Repressionen gegen Journalisten den Job gekostet. Sie ist Anfang 20 und arbeitete als Tontechnikerin für einen Fernsehsender aus Europa, den sie wegen einer Vertraulichkeitsvereinbarung mit dem Sender nicht nennen will. „Als der Krieg begann, erhielten wir einen Brief von unseren Kollegen, in dem sie uns versicherten, zwischen den Russen und dem russischen Staat zu unterscheiden und weiter mit uns zu arbeiten.“ Doch mit dem Verbot der freien Berichterstattung über den Krieg wurde die Zusammenarbeit beendet.
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Maria hat ihre einzige Einkommensquelle verloren. Einen Wechsel zu staatstreuen Medien kann sie sich nicht vorstellen. „Nicht eine einzige Person mit Selbstachtung kann da ernsthaft arbeiten.“ Sie findet aber keine Alternative. Auch Theater- und Musikszene sind unter staatlicher Kontrolle.
Keine Zukunft mehr in Russland
Für Ari, Maria und Natalia ist mit den Konsequenzen des Krieges ein freies und selbstbestimmtes Leben in Russland nicht möglich. Ari will Russland in Richtung Deutschland verlassen, plant ein Au-pair-Jahr und eine Ausbildung. Marias Pläne sind noch nicht konkret, aber auch für sie ist eine Ausreise eine ernsthafte Option.
Natalia will in den nächsten Tagen ein Flugzeug nach Jordanien besteigen. „Ich werde bei einer Freundin leben und von dort weiter Französisch, Englisch und Russisch unterrichten“, sagt sie. Zuerst werde sie sich in Jordanien aber eine neue Bankkarte besorgen, um überhaupt zahlungsfähig zu sein.
Nach Russland will sie erst wieder zurückkehren, wenn ein Zustand wie vor dem Krieg und vor den Sanktionen erreicht ist. Ihre Eltern – so erzählt Natalia – rechnen daher mit ihrer baldigen Rückkehr. Doch für sie fühle es sich wie ein Abschied für immer an.
Mitarbeit: Clemens Pittrof