Nuklear ins neue Jahr: sechs Gründe für Macrons neue Macht in Europa
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Er setzt seinen Pro-Atom-Kurs in Europa durch: Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich, hier bei einer Pressekonferenz zum Abschluss eines EU-Gipfels im Dezember.
© Quelle: John Thys/Pool AFP/AP/dpa
„Was hätten wir denn tun sollen? Es ging einfach nicht anders.“ Leise stöhnend reden Deutsche auf den Führungsetagen der EU-Kommission in Brüssel über die umstrittene Taxonomie-Entscheidung ihrer Behörde.
Kurz vor Jahresende stufte die Kommission die Atomkraft als „nachhaltige“ Energie ein – und erfüllte damit einen wichtigen Wunsch Frankreichs. Zugleich bekamen auch die Deutschen ein Zuckerle: Brüssel gab auch Erdgas ein grünes Label, jedenfalls vorübergehend: als Energie des Übergangs.
Grüne Atomkraft plus grünes Erdgas? Freunde der alternativen Energien schütteln sich; sie hatten vor einem solchen doppelten Etikettenschwindel seit Langem gewarnt. Genau so aber kam es nun.
Die Brüsseler Kommission allerdings besiegelte nur einen schmutzigen Deal, den Unterhändler aus Paris und Berlin schon vorab ausgeheckt hatten: Frankreich will ungestört Milliarden in neue Atomtechnik fließen lassen – und drückt zum Ausgleich ein Auge zu, wenn es um Nord Stream 2 geht und die alte Liebe der Deutschen zu russischem Gas. So könne jetzt jeder immerhin seiner Wege gehen, heißt es in Brüssel.
Ein wichtiger weiterer Aspekt, über den öffentlich kein EU-Beamter redet, kommt hinzu: Die Brüsseler Entscheidung stärkt Staatschef Emmanuel Macron vor den französischen Präsidentschaftswahlen in diesem Frühjahr. Die Stichwahl ist am 24. April. Man stößt an dieser Stelle auf einen von sechs Gründen für Macrons neue Macht in Europa.
Macrons Macht in der EU: „Er hat jetzt sozusagen ein paar Wünsche frei“
- Ein Sieg der Rechtspopulisten bei den Wahlen in Frankreich würde die gesamte Europäische Union in eine nie dagewesene Krise stürzen. Deshalb beeilt sich ganz Brüssel, Macron gut aussehen zu lassen: „Er hat jetzt sozusagen ein paar Wünsche frei“, heißt es in Führungskreisen der Kommission.
- Im Fall der Wiederwahl wird Macron seine neue historische Position noch weiter festigen, die sich bereits nach dem Austritt Großbritanniens ergeben hat: Er ist Chef des einzigen EU-Staats mit Atomwaffen.
- Macron hat im vorigen Jahr – von der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet – mit Italien und Griechenland neue „strategische Allianzen“ geschmiedet. Dabei geht es um eine engere Kooperation beim Militär, aber auch um die europäische Finanzpolitik. Paris verschiebt damit das Machtzentrum der EU Richtung Süden, Berlin wird an den Rand gedrängt. Fest steht jedenfalls, dass Rom und Athen auch im Atomstreit Frankreich unterstützen; hinzu kommt ganz Osteuropa. Damit hätte ein Versuch Deutschlands, den sogenannten delegierten Rechtsakt der EU-Kommission zum Atomthema nachträglich zu kippen, schon mathematisch keine Chance: Notwendig wäre ein Votum von 20 Staaten, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren.
- Seit dem Abgang Angela Merkels dominiert Macron Europa auch als politische Persönlichkeit: Ihm trauen viele eher als jedem anderen zu, eine Vision für die Zukunft der 440 Millionen EU-Europäer zu haben.
- Wegen der CO₂-Debatte spürt Macron Rückenwind: In Frankreich ist eine breite Mehrheit der Bevölkerung für Atomenergie, aber auch in anderen Staaten halten immer mehr Menschen Reaktoren verglichen mit Gas- oder Kohlekraftwerken für das geringere Übel. In Finnland etwa sehen sogar die Klimaschützer von Fridays for Future im Kohlendioxidausstoß „die größere Bedrohung“ als in nuklearen Abfällen. Mit dem neuen Reaktor Olkiluoto 3 will die finnische Regierung unter der sozialdemokratischen Ministerpräsidentin Sanna Marin noch in diesem Jahr den Anteil von Nuklearenergie an der Stromversorgung auf 40 Prozent steigern.
- Frankreich hat seit dem 1. Januar 2022 den alle sechs Monate wechselnden EU-Ratsvorsitz inne. Zum strukturellen Machtzuwachs für Paris kommt also aktuell noch eine besondere Möglichkeit des Schaltens und Waltens quer durch Europa hinzu.
Für den „lieben Olaf“ wird es unangenehm
Dem neuen deutschen Kanzler Olaf Scholz wird in dieser Phase nicht viel anderes übrigbleiben, als sich äußerlich an die Seite Macrons zu stellen und die sachlichen Differenzen kleinzureden. Die französische Diplomatie hat in solchen Dingen Übung. Eine Kostprobe lieferte Macron persönlich, als er am 10. Dezember den „lieben Olaf“ im Elysee-Palast willkommen hieß, bevor er dann vor der Presse orakelhaft wurde: „Dieser erste Austausch zeigt ganz klar, dass wir wirklich eine solide Konvergenz unserer Ansichten haben.“
Konvergenz der Ansichten? Im Nachhinein wird deutlich: Macron blieb damals knallhart auf Atomkurs. Scholz pochte auf Fortsetzung der in Europa umstrittenen deutschen Politik in Sachen Erdgas. Die Konvergenz lag am Ende nur darin, dass man einander genau das zu tun zugestand, worüber der jeweils andere nur den Kopf schütteln kann. In Wirklichkeit streben die Führungsmächte Europas zu Beginn des Jahres 2022 energiepolitisch auseinander wie noch nie.
Für Scholz wird es unangenehm. Um sich gegenüber den Atomkraftgegnern bei Grünen und SPD zu rechtfertigen, muss er betonen, wie wenig Einfluss er habe auf die europäischen Dinge – die prickelnde Werbebotschaft eines neuen deutschen Kanzlers wird daraus nicht.
Für Macron dagegen liegt, anders als für Scholz, in den Beschlüssen der EU nichts Belastendes. Im Gegenteil: Er kann seinen Landsleuten sagen: Seht her, beim Thema Atomkraft kommt nun alles so, wie ich es wollte.