Ein starker Mann unter Erfolgsdruck

Herbst der Entscheidungen für Selenskyj: Wie fest sitzt der ukrainische Präsident noch im Sattel?

Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, besuchte im Mai die vom Krieg betroffene Region Charkiw.

Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, besuchte im Mai die vom Krieg betroffene Region Charkiw.

Im Krieg gegen den äußeren Feind steht die Ukraine zusammen. Doch wie sieht es innenpolitisch aus? Die vor dem Krieg heillos zerstrittene politische Klasse des osteuropäischen Landes war nach Beginn der russischen Invasion in einem Burgfrieden zusammengerückt, so wird seit dem Ersten Weltkrieg eine Art innerer Waffenstillstand genannt, wenn vor dem Hintergrund einer Bedrohung von außen innenpolitischer Streit vorübergehend auf Eis gelegt wird.

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Garant und tragende Säule dieses Burgfriedens ist vor allem die Person des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj gewesen, dessen Mut, dessen Entschlossenheit, dessen Fähigkeit, im Angesicht einer substanziellen Bedrohung stets die richtigen Worte zu finden und so zum Chefmotivator eines ganzen Volkes zu werden.

„Selenskyj wurde zu einer Art Actionheldenfigur – und es ist immer gefährlich, Menschen auf ein Podest zu stellen. Je höher der Sockel, desto stärker der Wind, der dich davonweht“, sagt Colin Alexander, Dozent für politische Kommunikation an der Nottingham Trent University, der britischen Zeitung „I“.

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Atomkraftwerk Saporischschja: Lage äußerst angespannt

Trotz Warnungen vor einer Nuklearkatastrophe steht das größte europäische Atomkraftwerk Saporischschja in der Ukraine weiter unter Beschuss.

Tatsächlich knirscht es im politischen Getriebe des angegriffenen Staates – spätestens seit Selenskyj Mitte Juli seinen Geheimdienstchef Iwan Bakanow und seine Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa entließ.

Der Vorwurf, sie hätten in ihren Reihen nicht konsequent genug Kollaborateure aufgespürt, landete am Ende beim Präsidenten selbst. Vorwurf an Selenskyj: Sechs Monate nach Beginn der Invasion twitterten Menschen ihre Erfahrungen mit Chaos und Verwerfungen nach dem Überfall, auf die sie nicht vorbereitet waren, und beschrieben, wie sie möglicherweise andere Entscheidungen getroffen hätten, wenn sie gewusst hätten, was kommen würde.

Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Akademikerinnen und Akademiker äußerten auf Facebook auch scharfe Kritik an der Entscheidung des Präsidenten, damals das Risiko einer Invasion herunterzuspielen. Zumindest eine gewisse Mitverantwortung für das anfängliche Chaos und selbst die daraus resultierenden Gräueltaten der russischen Invasoren warf man ihm vor.

Wenn wir das kommuniziert hätten (...), dann hätte ich seit letztem Oktober monatlich 7 Milliarden Dollar verloren (...).

Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj

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Die Ukrainerinnen und Ukrainer wären in Panik geraten, aus dem Land geflohen, was einen wirtschaftlichen Zusammenbruch ausgelöst hätte, begründete Selenskyj. „Wenn wir das kommuniziert hätten (...), dann hätte ich seit letztem Oktober monatlich 7 Milliarden Dollar verloren, und in dem Moment, als die Russen angegriffen haben, hätten sie uns in drei Tagen eingenommen“, sagte er.

Sevgil Musaieva, Chefredakteurin der Ukrainska Pravda, einer ukrainischen Nachrichtenseite, postete auf Facebook, dass sie von Selenskyjs Erklärung „persönlich beleidigt“ sei und sagte, sie stelle die Intelligenz der Ukrainerinnen und Ukrainer infrage.

Maria Avdeeva nach einem russischen Artillerieangriff in Charkiw.

Sechs Monate Kampf um die Wahrheit

Freunde haben ihr zur Flucht nach Westen geraten. Doch Maria Avdeeva ist stur: Seit Kriegsbeginn ist die Politologin aus Charkiw kreuz und quer im Land unterwegs – und zeigt ihren weltweit mehr als 100. 000 Followern, was wirklich los ist in der Ukraine.

Sie wäre nicht geflohen

Sie wäre nicht geflohen, sagte sie, und die potenziellen Kosten von 7 Milliarden Dollar pro Monat für die Wirtschaft müssen gegen die verlorenen Menschenleben, die schnelle Eroberung von Teilen der Südukraine durch Russland und die Angst und Einschüchterung von Zivilistinnen und Zivilisten abgewogen werden, die sich unerwartet unter russischer Besatzung wiederfanden.

„Ehrlich gesagt, standen mir die Haare zu Berge, als ich las, was (Selenskyj) über die Evakuierung sagte (...). Wie kann jemand, der Mariupol, Butscha und Cherson auf dem Gewissen hat, sagen, dass eine Evakuierung das Land überwältigt hätte?“, schrieb der Journalist Bohdan Butkevich auf seiner Facebook-Seite und bezog sich auf Orte, an denen Russland Gräueltaten vorgeworfen wurde.

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Der Krieg bescherte Selenskyj einen enormen Popularitätsschub. Nur zwei Monate vor der russischen Invasion galt er einer Umfrage zufolge für 45 Prozent der Menschen seines Landes als „Enttäuschung des Jahres“. Nach dem russischen Einmarsch stiegen seine Zustimmungswerte im Mai auf bis zu 78 Prozent. Doch wie lange können Selenskyj und die ukrainischen Streitkräfte von seinem Charisma zehren?

Selenskyjs Büroleiter, Andrij Yermak.

Selenskyjs Büroleiter, Andrij Yermak.

Vor allem eine Personalie bildet die tragende Säule des Systems Selenskyj; Büroleiter Andrij Yermak. Er sei der Mann „der dem Präsidenten hilft, den Staat zu führen“, zitierte der „Tagesspiegel“ den Politikwissenschaftler Oleksii Holobutskyi. Yermak sei das Mastermind, welches die Ukraine von einer parlamentarisch-präsidentiellen Regierungsform, wie es die Verfassung vorsieht, zu einer präsidentiell-parlamentarischen Regierungsform umgebaut habe. Yermaks Handlungsspielraum beschränkt sich auf die Innenpolitik, außenpolitische Entscheidungen gehören in den Bereich von Außenminister Dmytro Kuleba und Verteidigungsminister Oleksij Resnikow.

Präsident Selenskyj: Bereit für Getreideexport und warten auf Startsignal

Selenskyj besuchte den Hafen Tschornomorsk am Schwarzen Meer, um sich persönlich über die Vorbereitungen für die Getreideausfuhren zu informieren.

„Dass die Rolle des Parlaments in Kriegszeiten schwächer ist, ist ein nachvollziehbarer Prozess. Im Krieg müssen Entscheidungen schnell fallen – da diskutiert das Parlament zu lange“, äußerte Oleksiy Honcharenko, ein Mitglied der Oppositionspartei Europäische Solidarität, im „Tagesspiegel“. Dennoch wird kritisiert, dass „jetzt alle Macht in einer Person vereint“ sei, „dem Oberbefehlshaber und Präsidenten Selenskyj“.

Alles hängt davon ab, wie die Regierung Selenskyj die großen Herausforderungen der kommenden Wochen stemmt: Was wird aus der versprochenen Offensive zur Rückeroberung Chersons im Süden? Gelingt es, den Druck auf die Krim und das russische Hinterland aufrechtzuerhalten? Schafft es Selenskyj, dass der Strom an Waffenlieferungen aus dem Westen nicht abebbt? Zu guter Letzt: Wie übersteht die Ukraine Herbst und Winter angesichts abgeschnittener Rohstofflieferungen und von Russland besetzter Kernkraftwerke?

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Jetzt kommt es darauf an, darüber zu reden, was als Nächstes passiert.

Matthew Seeger,

ein Spezialist für Krisenkommunikation

Bislang war es vor allem Selenskyjs authentische Kommunikation, die seine Popularität im In- und Ausland begründete. Sprüche wie „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit“, stehen beispielhaft dafür. Damit gewann er den Krieg an der PR-Front. „Jetzt kommt es darauf an, darüber zu reden, was als Nächstes passiert“, sagt Matthew Seeger, ein Spezialist für Krisenkommunikation der Wayne State University in Detroit, in der britischen Zeitung „I“.

Seeger: „Wir müssen das Gefühl haben, dass der Konflikt enden kann – und nicht die nächsten zehn Jahre andauern wird. Und dass es, wenn das passiert, das Land wieder aufgebaut wird und eine starke, widerstandsfähige, technologisch anspruchsvolle und wirtschaftlich erfolgreiche Ukraine entsteht.“

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