Pro Asyl über die aktuelle Flüchtlingsdebatte

„Es ist beschämend für einen Club von 27 Demokratien“: Was gerade an den EU-Außengrenzen passiert

Eine geflüchtete Mutter sucht ärztlichen Rat bei Helfern des Roten Kreuzes (Symbolbild).

Eine geflüchtete Mutter sucht ärztlichen Rat bei Helfern des Roten Kreuzes (Symbolbild).

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Herr Kopp, seit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine kommen wieder mehr Geflüchtete in die EU. Auch in anderen Ländern herrscht Krieg, Hunger oder es fehlen Zukunftsperspektiven – auch wegen des Klimawandels. Verlassen aktuell mehr Menschen ihre Heimat und fliehen nach Europa?

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Die meisten Schutzsuchenden, circa 85 Prozent, leben in der unmittelbaren Nachbarregion des Konflikts. Nur ein Teil kommt nach Europa. Aktuell gibt es die dramatische Entwicklung, dass wir einen Krieg in Europa haben und über eine Million ukrainische Geflüchtete allein in Deutschland Schutz suchen mussten.

Aber dass es aktuell sehr viel mehr Geflüchtete aus anderen Kriegs- und Krisengebieten nach Europa schaffen, ist ein verzerrter Eindruck. Es hat sich 2022 eine gewisse „Normalisierung“ eingestellt: Es gab vorher einen massiven Rückgang der Ankunftszahlen, angesichts der Covid- und Lockdown-Maßnahmen. Der aktuelle Anstieg der Asylgesuche in Deutschland spiegelt mit Blick auf die fünf Hauptherkunftsländer – Syrien, Afghanistan, Türkei, Iran, Irak – die katastrophale Menschenrechtslage dort wider. Ein Teil der Asylsuchenden war bereits in der EU. Sie fliehen innerhalb der EU weiter, weil die Lebensverhältnisse für Schutzsuchende an den EU-Außengrenzstaaten wie Griechenland, Italien und anderen Ländern so erbärmlich sind.

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Wie ist dieser Eindruck, dass aktuell mehr Menschen nach Europa und in die EU kommen, entstanden?

Das liegt daran, dass die Kommunen vor großen Herausforderungen stehen. Es fehlen menschenwürdige Aufnahmeplätze. Bereits vorher existierten Probleme im sozialen Wohnungsbau und bei der Infrastruktur. Sie werden jetzt aber sichtbar wie unter einem Brennglas: Zu den ukrainische Geflüchteten kamen im vergangenen Jahr noch circa 200.000 Asylsuchende dazu. Mit über 72 Prozent lag die Schutzquote in 2022 so hoch wie noch nie.

Können Sie schildern, was aktuell an den EU-Außengrenzen los ist?

Die Situation an den Außengrenzen ist dramatisch. Es gibt systematische, völkerrechtswidrige Zurückweisungen an allen Landgrenzen, Menschenrechtsverletzungen, schwerste Straftaten durch Grenzbeamte. Das Bittere: Diese Straftaten bleiben in der Regel ungesühnt. Und: An den Seegrenzen geht das Sterben unvermindert weiter.

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Was erleben die Menschen, die sich auf den Weg gemacht haben?

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An jeder Außengrenze finden völkerrechtswidrige Zurückweisungen und Zurückschiebungen statt. Diese sogenannten Pushbacks finden häufig unter Anwendung exzessiver Gewalt statt. Sie sind Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, die Genfer Flüchtlingskonvention und gegen die EU-Charta der Grundrechte.

Zusätzlich geschieht auf dem Seeweg eine massive Behinderung der zivilen Seenotrettung. Es existiert weiterhin kein europäischer Seenotrettungsdienst. Schlimmer noch: Es gibt seitens der EU eine fatale Kooperation mit der sogenannten libyschen Küstenwache. Europa bezahlt Milizen dafür, Flüchtlingsboote abzufangen und Schutzsuchende zurück in die Haft- und Folterlager in Libyen zu bringen. Das alles im Namen Europas. Es ist beschämend für einen Club von 27 Demokratien.

Dorf in Nordfriesland hat mehr Flüchtlinge als Einwohner
ARCHIV - 21.03.2023, Schleswig-Holstein, Seeth: Das Waappen der Gemeinde Seeth im Kreis Nordfriesland ist auf einem Stein angebracht. In einer ehemaligen Bundeswehrkaserne leben derzeit mehr Flüchtlinge als das Dorf Einwohner zählt.

In der kleinen Gemeinde Seeth wohnen mehr Geflüchtete als Einwohner. (zu dpa: «Friedlich zusammenleben im Dorf») Foto: Frank Molter/dpa - Honorarfrei nur für Bezieher des Dienstes dpa-Nachrichten für Kinder +++ dpa-Nachrichten für Kinder +++

Auf rund 700 Einwohner kommen im Dorf Seeth knapp 800 Flüchtlinge und Asylsuchende. Sie wohnen in einer Landesunterkunft am Dorfrand.

Wo kommen die meisten Geflüchteten gerade an?

Auf dem Seeweg führt die Hauptroute momentan nach Italien. Dort kamen bis Anfang Mai circa 41.000 Bootsflüchtlinge an, in Spanien waren es knapp über 6000 und in Griechenland 4450. Die Landgrenzen im Osten und Südosten der EU werden zunehmend mit Zäunen, Mauern, Hightech und Grenzschutzeinheiten abgeriegelt.

Wie gefährlich sind diese Überfahrten über das Meer?

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Die UN hat allein im April 2023 innerhalb von zehn Tagen fast 300 Todesfälle im zentralen Mittelmeer verzeichnet – mindestens 824 Menschen haben in den ersten vier Monaten auf dieser Route ihr Leben verloren.

Die Menschen, die es an die EU-Außengrenzen schaffen, sind sie im Zuge von weiteren Kriegen und des Klimawandels erst der Anfang?

Ja, solange humanitäre Krisen fortbestehen. Das Erdbeben in der Türkei und in Syrien ist leider sehr schnell in der öffentlichen Debatte in den Hintergrund getreten. Es sind 23 Millionen Menschen von dieser Jahrhundertkatastrophe betroffen, mindestens 60.000 starben und Millionen Menschen stehen vor dem Nichts. Darunter sind auch 1,7 Millionen Geflüchtete aus Syrien und anderen Ländern. Was passiert mit ihnen? Gibt es eine Lebensperspektive in der Türkei? Kehren sie zurück in Kriegsgebiet? Oder versuchen sie, weiter in die EU zu fliehen?

Und es gibt weitere Fluchtursachen: Das menschenverachtende Taliban-Regime in Afghanistan, die massive Repression der Oppositionsbewegung im Iran, die aktuellen Kämpfe im Sudan. Aber noch mal: Nur ein Bruchteil der Fliehenden schafft es nach Europa, weil es für sie keine legalen und gefahrenfreie Wege in die EU gibt.

Mit dem Jahr 2015 wird auch immer wieder die „Flüchtlingskrise“ verbunden. Ist die aktuelle Fluchtbewegung damit zu vergleichen?

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Wenn Sie jetzt nur die Zahlen aller ankommender Geflüchteter in Deutschland nehmen: Ja. Aber wir haben zum Glück immer noch zivilgesellschaftliche Strukturen aus 2015 und neue, um das Ankommen in den Kommunen zu erleichtern.

Anders als 2015 gibt es für ukrainische Geflüchtete ein sehr gutes und unbürokratisches Aufnahmekonzept. Bedauerlicherweise wird im öffentlichen Diskurs eine erste und zweite Klasse von Geflüchteten aufgemacht: Die ukrainischen sind willkommen, die Schutzsuchenden aus anderen Kriegs- und Krisengebieten sollen draußen bleiben.

Die EU Staaten wollen Asylverfahren in Zukunft anders händeln. Wie bewerten Sie das?

Es ist ein Skandal, dass die Ampelkoalition sogenannte „Asylverfahren an der Grenze“ befürwortet. Für Pro Asyl ist das ein menschenrechtlicher Dammbruch. Es gibt keine fairen, rechtsstaatlichen Verfahren in haftähnlichen Lagern fernab an den Rändern Europas. Die Blaupause für dieses Abschreckungskonzept können wir seit Jahren auf den griechischen Inseln studieren.

Die Vorstellung, dass es diese Entrechtung Schutzsuchender bald europaweit geben wird, ist schlimm. Der Druck von rechtspopulistischen Strömungen in der EU zur Abschaffung des Asylrechts ist enorm – die Bundesregierung darf dem nicht zustimmen! Es geht letztlich um die Grundsatzfrage: Ist die Ampel-Koalition bereit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Menschenwürde – die Fundamente der EU – zu verteidigen?

Wie würde aus Sicht von Pro Asyl ein geeignetes System zur Migration aussehen?

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Die EU braucht einen verbindlichen Solidarmechanismus bei der Aufnahme von Geflüchteten. Das Design bei der Aufnahme der Geflüchteten aus der Ukraine ist ein gutes Role Model. Sie haben die freie Wahl ihres Schutzlandes, familiäre Bindungen erleichtern das schnelle Ankommen in der Gesellschaft. Dieses Konzept sollte auch auf die anderen Geflüchteten angewandt werden.

Das Völkerrecht und das EU-Recht müssen an den EU-Außengrenzen durchgesetzt werden. Pushbacks müssen beendet werden. Das ist auch der Anspruch, der im Koalitionsvertrag der Ampel formuliert wird. Das wäre auch die Aufgabe der EU-Kommission, jedoch erfüllt sie ihren Job nicht. Wir benötigen einen unabhängigen Überwachungsmechanismus an den Grenzen, um Rechtsverstöße zu entdecken, zu ahnden, besser noch zu verhindern.

Und: Europa muss nicht nur einen robusten Seenotrettungsdienst schaffen, um das Massensterben im Mittelmeer zu beenden. Wichtig ist auch, dass reguläre Fluchtwege eröffnet werden: humanitäre Visa und Aufnahmeprogramme und funktionierende Familienzusammenführungen sind nur ein Beispiel dafür.


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