Raus aus dem Krisenmodus? Spanien und Portugal erwägen Strategiewechsel bei Corona-Bekämpfung
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/LZXHBGA2TBFWZCQ27IM3S4USK4.jpg)
Der spanische Ministerpräsident Pedro Sanchez will in seinem Land bei der Corona-Bekämpfung vom Krisen- in den Kontrollmodus wechseln (Archivbild).
© Quelle: imago images/Agencia EFE
Madrid. Kontrolle statt Krise: Europäische Länder mit hohen Impfquoten steuern auf einen Kurswechsel in der Corona-Politik zu. Doch nicht für alle kommt das jetzt schon in Frage - die Weltgesundheitsorganisation (WHO) glaubt, dass es für einen Strategiewechsel noch zu früh ist.
Zu Beginn der Corona-Pandemie mussten die Menschen in Spanien mehr als drei Monate zu Hause bleiben. Wochenlang durften sie nicht einmal zum Sport das Haus verlassen. Kinderspielplätze waren gesperrt, und die Wirtschaft kam praktisch zum Erliegen. Aus Sicht der Regierung verhinderten die drakonischen Maßnahmen aber einen Zusammenbruch des Gesundheitssystems und retteten Menschenleben.
Knapp zwei Jahre später bereitet sich das Land auf einen neuen Kurs in der Corona-Politik vor. Angesichts einer der höchsten Impfquoten in Europa und einer stark geschädigten Wirtschaft stellt die Regierung die Weichen dafür, die nächste Infektionswelle nicht als Notfall zu behandeln, sondern als Krankheit, die bleiben wird. Ähnliche Schritte ziehen auch Portugal und Großbritannien in Betracht.
Vom Krisen- in Kontrollmodus wechseln
Die Idee dahinter ist, vom Krisen- in den Kontrollmodus zu wechseln und mit Covid-19 umzugehen wie mit der Grippe oder den Masern. Dass es Infektionen geben wird, soll demnach akzeptiert werden. Risikogruppen und Patienten mit Komplikationen sollen eine besondere Versorgung erhalten.
Der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez forderte die EU auf, ähnliche Änderungen zu prüfen, nachdem die Omikron-Welle nun auf mildere Verläufe hindeutet. In den kommenden Monaten und Jahren müsse in Einklang mit den Erkenntnissen der Wissenschaft über „verschiedene Parameter“ im Umgang mit der Pandemie nachgedacht werden, sagte der Mitte-links-Politiker.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) teilte mit, noch sei es zu früh für einen Strategiewechsel. Sie hat zwar keine klar definierten Kriterien dafür, Covid-19 zu einer endemischen Krankheit zu erklären. WHO-Experten hatten jedoch angekündigt, dass dies geschehen werden, wenn das Virus berechenbarer sei und es keine anhaltenden Ausbrüche mehr gebe. „Es ist eine etwas subjektive Bewertung, weil es nicht nur um die Zahl der Fälle geht“, sagte der WHO-Direktor für Notfälle, Michael Ryan. „Es geht auch um die Schwere und die Auswirkungen.“
Der ranghöchste US-Immunologe Anthony Fauci sagte, Covid-19 solle erst dann als endemisch eingestuft werden, wenn es ein Level erreiche, „das nicht die Gesellschaft zerreißt“. Das Europäische Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten rief die Staaten auf, nach dem Ende der akuten Pandemiephase zu einem routinierteren Umgang mit Corona überzugehen. Die EU-Agentur sprach von einem „langfristigeren, nachhaltigen Überwachungsansatz“.
In Spanien treibt unter anderen die Gesellschaft für Familien- und Gemeinschaftsmedizin einen solchen Umstieg voran. Eine hohe impfbedingte Immunität in Kombination mit weit verbreiteten Infektionen biete die Chance, Präventionsbemühungen, Testungen und Kontaktverfolgungen auf Gruppen mit mittlerem und hohem Risiko zu konzentrieren, erklärte der Leiter der Organisation, Salvador Tranche. Covid-19 müsse „behandelt werden wie alle anderen Krankheiten“, sagte er der AP.
Tranche: Todesfälle infolge von Corona unvermeidlich
Auch müsse sich die Öffentlichkeit an den Gedanken gewöhnen, dass manche Todesfälle infolge von Corona unvermeidlich seien, betonte Tranche. „Wir können auf der sechsten Welle nicht mehr das tun, was wir auf der ersten getan haben: Das Modell muss sich ändern, wenn wir andere Ergebnisse erzielen wollen.“
Einstweilen beschränkt sich die Diskussion über den Übergang zu einem endemischen Ansatz allerdings auf reiche Staaten, die es sich leisten können, in der Vergangenheitsform über die schlimmsten Phasen der Pandemie zu sprechen. Um ihre robusten öffentlichen Gesundheitssysteme sowie den Zugang zu Impfstoffen werden sie von Entwicklungsländern beneidet. Unklar ist auch, wie sich eine endemische Strategie mit dem „Zero-Covid“-Kurs Chinas und anderer asiatischer Länder vereinbaren ließe und wie sich das auf den internationalen Reiseverkehr auswirken würde.
Viele Länder rücken angesichts der Rekordzahlen an Omikron-Fällen bereits vom massenhaften Testen und von strengen Quarantäneregeln ab, vor allem für Beschäftigte, die lediglich Erkältungssymptome haben. Seit Anfang des Jahres fällt an spanischen Schulen der Unterricht nur noch bei größeren Ausbrüchen aus und nicht wie früher beim ersten gemeldeten Fall.
Hohe Infektionswerte in Portugal
Im benachbarten Portugal, das eine der weltweit höchsten Impfquoten hat, erklärte Präsident Marcelo Rebelo de Sousa in seiner Neujahrsansprache, dass das Land in eine endemische Phase übergetreten sei. Doch die Debatte über spezifische Maßnahmen verstummte, seit die Infektionszahlen wieder Rekordwerte erreichen: Am Dienstag waren es fast 44.000 neue Fälle innerhalb von 24 Stunden.
Die Zahl der Krankenhauseinweisungen und Todesfälle sind in der geimpften Welt jedoch viel niedriger als bei früheren Wellen. In Großbritannien verkündete Premierminister Boris Johnson am Mittwoch das Ende vieler Corona-Maßnahmen zum 26. Januar. Laut offizieller Statistik haben 95 Prozent der britischen Bevölkerung entweder der Impfung oder Infektion Antikörper gegen das Coronavirus entwickelt.
Für andere europäische Länder wie Deutschland steht die Vorstellung einer Normalisierung hingegen im Widerspruch zu den Bemühungen, Skeptiker von der Impfung zu überzeugen. Aktuell sind weniger als 73 Prozent der Deutschen zwei Mal geimpft, und die Infektionsraten erreichen fast tägliche Rekordstände. Italien hat eine Impfpflicht für alle ab 50 Jahren eingeführt und bestraft Ungeimpfte, die zur Arbeit kommen, mit Geldbußen bis zu 1500 Euro. Wer öffentliche Verkehrsmittel nutzen, fliegen oder Fitnessstudios, Hotels und Messen besuchen will, muss einen vollständigen Impfschutz haben.
AP/RND