Folter, Demütigung, Schauprozesse

Sorge um ukrainische Kriegsgefangene – was passiert mit ihnen in Russland?

Dieses vom Pressedienst des russischen Verteidigungsministeriums und über AP zur Verfügung gestellte Videostandbild soll russische Soldaten zeigen, die ukrainische Soldaten durchsuchen, während diese aus dem belagerten Stahlwerk Azovstal evakuiert werden.

Dieses vom Pressedienst des russischen Verteidigungsministeriums und über AP zur Verfügung gestellte Videostandbild soll russische Soldaten zeigen, die ukrainische Soldaten durchsuchen, während diese aus dem belagerten Stahlwerk Azovstal evakuiert werden.

Niemand kennt ihre genaue Zahl. Zuletzt im Juni gab ein Sprecher des russischen Verteidigungsministers bekannt, dass sich mehr als 6000 ukrainische Soldaten als Kriegsgefangene in Russland befinden sollen. Doch verlässlich sind solche Aussagen nicht. Es gibt keinen Kontakt zu ihnen, das Internationale Rote Kreuz bekommt keinen Zugang.

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Was durch Zufall aus russischen Lagern nach außen dringt, lässt die Angehörigen Schlimmstes befürchten. Wie zuletzt Ende Juli, als im Lager Oleniwka 53 ukrainische Gefangene bei einer Explosion starben, in der Ukraine und im Westen hält sich hartnäckig der Verdacht, dass dies durch die Bewacher inszeniert wurde.

Jetzt warfen ehemalige ukrainische Kriegsgefangene dem russischen Militär öffentlich schwere Misshandlungen vor. Bei einer Onlinepressekonferenz berichteten ehemalige Kämpfer des Asow-Regiments, dass Soldaten etwa mit Schlägen die Knochen gebrochen worden seien.

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Asow-Kämpfer berichten von schwerer Folter

Die Aussagen der Kämpfer, die nach eigenen Angaben von den russischen Streitkräften gefangen genommen wurden, konnten bisher nicht unabhängig überprüft werden.

„Sie zogen uns aus und zwangen uns, nackt in der Hocke zu sitzen. Wenn einer der Jungen den Kopf hob, schlugen sie ihn sofort“, sagte der ukrainische Soldat Denys Tscherpouko. Er gab an, in der berüchtigten Gefängniskolonie Nr. 120 in Olenivka „verhört“ worden zu sein. In Wahrheit ging es um das Erzwingen von Falschaussagen, zum Beispiel, dass es die ukrainischen Verteidiger selbst gewesen seien, die das Theater in Mariupol bombardiert hätten.

Die Russen verwenden demnach viel Energie darauf, die Gefangenen unter Schlägen und Todesdrohungen zu Aussagen zu bewegen, die dann als angebliche „Zeugnisse“ in Form von Videoaussagen oder Geständnisse vermutlich in Schauprozessen Verwendung finden sollen.

Manchen wurden Nadeln in die Wunden gestochen, manche wurden mit Wasser gefoltert.

Wladyslaw Schaiworonok,

Ex-Kriegsgefangener

Der frühere Gefangene Wladyslaw Schaiworonok berichtete von Fällen „schwerer Folter“: „Manchen wurden Nadeln in die Wunden gestochen, manche wurden mit Wasser gefoltert“, sagte Schaiworonok. Unabhängig prüfen lassen sich diese Aussagen nicht.

Die ehemaligen Verteidiger der ukrainischen Hafenstadt Mariupol bilden den Großteil der Gefangenen. Rund 2600 Kämpfern und Sanitäter aus dem Stahlwerk Azovstal begaben sich Ende April in russische Kriegsgefangenschaft, lediglich 95 von ihnen kehrten bislang zurück.

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Weil ihr zäher Widerstand weltweit bewundert wurde und sie in der Ukraine beinahe mythischen Heldenstatus genießen, sind sie den Russen besonders verhasst. In Anspielung auf die nationale und rechte Gesinnung vor allem von Kämpfern des Asow-Regiments der ersten Generation müht sich der Kreml, dem gesamten Regiment, welches längst Teil der ukrainischen Armee ist, de facto eine faschistische Gesinnung anzudichten.

Maria Avdeeva nach einem russischen Artillerieangriff in Charkiw.

Sechs Monate Kampf um die Wahrheit

Freunde haben ihr zur Flucht nach Westen geraten. Doch Maria Avdeeva ist stur: Seit Kriegsbeginn ist die Politologin aus Charkiw kreuz und quer im Land unterwegs – und zeigt ihren weltweit mehr als 100. 000 Followern, was wirklich los ist in der Ukraine.

Die letzten ukrainischen Kämpfer in Mariupol hatten am 19. Mai kapituliert, ihnen war damals eine Behandlung nach der Genfer Konvention für Kriegsgefangene versprochen worden, auch ein Austausch gegen russische Kriegsgefangene stand in Aussicht. Jetzt drohen ihnen Schauprozesse als „Kriegsverbrecher“ nach sowjetischem Vorbild.

Angehörige studieren russische Propagandavideos

Weil die Angehörigen keinerlei Informationen über das Schicksal ihrer Angehörigen haben, studieren viele von ihnen die verhassten russischen Propagandavideos, wo kriegsgefangene Ukrainer regelrecht vorgeführt werden. Es ist der einzige Weg, um überhaupt Informationen über den Verbleib dieser Menschen zu bekommen.

Einem US-Bericht zufolge betreiben die Russen 21 Einrichtungen, in denen ukrainische Zivilistinnen, Zivilisten und Kriegsgefangene festgehalten, verhört und dann weitergeleitet werden. Die Untersuchung der Yale University mit Unterstützung des US-Außenministeriums beschreibt ein System, in dem auch Zivilistinnen und Zivilisten registriert werden, bevor sie entweder freigelassen, weiter festgehalten oder nach Russland abtransportiert werden.

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Der Leiter des Humanitarian Research Lab in Yale, Nathaniel Raymond, spricht von einem „Filtrationssystem“ für Menschen. Der Bericht basiert unter anderem auf Satellitenbildern.

Nur in ganz seltenen Fällen wurden Kriegsgefangene bislang freigelassen. Zähe Verhandlungen unter Beteiligung des Roten Kreuzes gingen dem voraus. „Bisher wurden 27 solcher Operationen durchgeführt“, so der stellvertretende russische Verteidigungsminister Alexander Fomin Anfang August.

Russische Angriffe in der Ostukraine werden intensiver

Die russische Armee hat nach britischen Erkenntnissen ihre Angriffe in der Ostukraine zuletzt wieder verstärkt.

Der größte einzelne Austausch fand Ende Juni statt, als von jeder Seite 144 Kriegsgefangene ausgetauscht wurden. Die Verhandlungen über den Gefangenenaustausch sind einer der letzten diplomatischen Kanäle zwischen Moskau und Kiew überhaupt.

Natürlich ist eine unabhängige Prüfung immer schwer, doch russische Kriegsgefangene in der Ukraine scheinen unter wesentlich besseren Verhältnissen zu leben. In einem Interview mit der Deutschen Welle (DW) stellte die Leiterin der UN-Mission für Menschenrechte in der Ukraine, Matilda Bogner, fest, dass die Haftbedingungen für russische Kriegsgefangene insgesamt zufriedenstellend seien.

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Wir misshandeln keine Kriegsgefangenen, wir sind eine europäische Armee.

Oleksiy Arestovych,

ukrainischer Präsidentenberater

UN-Beobachter hätten laut Bogner aber auch Informationen darüber erhalten, dass auch russische Soldaten misshandelt worden seien – überwiegend kurz nach ihrer Gefangennahme. Als es Ende März zu solchen Berichten kam, dokumentiert durch Handyaufnahmen, verurteilte Oleksiy Arestovych, ein Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi, das aufs Schärfste. Man nehme diese Vorwürfe sehr ernst und verfolge sie. Arestovych: „Wir misshandeln keine Kriegsgefangenen, wir sind eine europäische Armee.“

Nach Angaben des ukrainischen Justizministeriums werden für einen Kriegsgefangenen pro Monat rund 3000 Hrywnja (umgerechnet 95 Euro) für Lebensmittel, Kleidung, Hygieneartikel sowie für Wasser und Strom benötigt.

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Nach drei Monaten Gefangenschaft will er nur noch zurück nach Hause

Bei Interviews von Journalisten der DW mit drei russischen Kriegsgefangenen waren ein Wachmann, ein Psychologe der Untersuchungshaftanstalt und weitere Häftlinge anwesend. Die DW-Journalisten hatten persönlich den Eindruck, dass die Anwesenheit der U-Haft-Mitarbeiter keinen Einfluss auf die Erzählungen der Gefangenen oder ihren Wunsch zu sprechen hatte.

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Die Wachen hörten dem Gespräch nicht zu. Sie hielten Abstand und übten keinen Druck auf die DW-Gesprächspartner aus. Keiner der Gefangenen beschwert sich im Gespräch mit der DW über schlechte Haftbedingungen oder unmenschliche Behandlung. Offizielle Angaben darüber, wie viele russische Soldaten in der Ukraine in Haft sind, gibt es nicht.

„Die Hoffnung stirbt zuletzt“, so der 20-jährige Dmitrij zu DW, der auf einen Austausch hofft. Nach drei Monaten Gefangenschaft will er nur noch zurück nach Hause. Und er sagt, er wolle nie wieder in der Armee dienen.

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