Russlanddeutsche und der Krieg in der Ukraine – über die Zerrissenheit in den Familien
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Proukrainische Proteste in Berlin: Die Haltung innerhalb der postsowjetischen Community in Deutschland ist nicht eindeutig.
© Quelle: Kay Nietfeld/dpa
Hannover. Im Nachhinein wirkt die Frage natürlich naiv. Aber es war eben die Frage eines Kindes, es ist fast 20 Jahre her, dass es sie stellte. Und wenn Kira Rjabcew diese Geschichte heute wieder erwähnt, am Morgen des russischen Angriffs, dann nicht, um Wladimir Putins Aggressionen zu rechtfertigen – sondern um zu zeigen, wie verbrecherisch und letztlich auch absurd dieser Krieg ist. Die Frage also, die Kira Rjabcew ihrem Vater stellte, nachdem sie ihre Verwandten beiderseits der Grenze besucht hatte, sie lautete: „Wenn sich die Ukraine und Russland so ähnlich sind: Warum sind das dann zwei Länder?“
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Kira Rjabcew ist inzwischen 24, sie studiert in Berlin, sie ist hier geboren. Ihr Vater stammt aus der Ostukraine, ihre Familie lebt in Moskau und Sankt Petersburg. Wenn sie an diesem Morgen aufgewühlt, wie sie ist, ihre Stimmung beschreiben will, zitiert sie erst mal die Nachricht eines jungen russischen Wehrpflichtigen, die sie gerade gelesen hat: „Gegen wen sollen wir Krieg führen? Gegen die Brüder und Schwestern auf der anderen Seite? So viele haben Verwandte auf der anderen Seite, es hat keinen Sinn, in den Krieg zu ziehen“, schrieb er.
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Kira Rjabcew ist Studentin mit russisch-ukrainischen Wurzeln in Berlin.
© Quelle: Kira Rjabcew
Sie selbst fühlt sich schon seit Wochen wie zerrissen. „Wenn man russische und ukrainische Wurzeln hat, dann sitzt man zwischen allen Stühlen“, sagt sie. Da ist, zum einen, die Sympathie mit den Menschen auf beiden Seiten der Grenze. Dann die Missbilligung Putins und die Unterstützung für die Ukraine als demokratischer, selbstbestimmter Staat. Und schließlich das Problem, mit dem eigenen Vater irgendeinen gemeinsamen Nenner zu finden.
Kira Rjabcew gehört zu einer Gruppe, die in Deutschland mindestens 3,5 Millionen Menschen umfasst: die Gruppe jener, die selbst oder deren Eltern oder Großeltern seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind. Die meisten, rund drei Viertel, sind Spätaussiedler mit deutschen Wurzeln. Dann gibt es die Kontingentflüchtlinge jüdischen Glaubens, viele aus der Ukraine. Und schließlich noch jene, die aus anderen Gründen kamen. Wie schaut diese Gruppe auf den Krieg? Kann es überhaupt einen gemeinsamen Blick geben?
Vereinnahmt von den russischen Medien
Rjabcews Vater ist Arzt, er arbeitete in Moskau und konnte nach der Unabhängigkeit nicht zurück in die Ukraine. Er kam nach Deutschland, jetzt ist er 69 – und noch geprägt vom Aufwachsen im Kalten Krieg mit der sowjetischen Sicht der Welt. „Er ist vereinnahmt von russischen Medien und ihrem Narrativ“, sagt sie. In dieser Sicht ist Russland groß, mächtig, vom Westen bedroht, und ein Angriff reine Selbstverteidigung. Ein Gespräch mit ihm über diese Themen? Für Kira Rjabcew kaum möglich. Der Riss geht, wie bei so vielen in der Post-Ost-Community, wie sie die Jüngeren selbst nennen, quer durch die Familien.
Doch die Grenzen verlaufen nicht starr entlang der Generationengrenzen, betont der Migrationsforscher Jannis Panagiotidis von der Universität Wien. „Die Älteren sind nicht einfach automatisch prorussisch“, betont er. Viele Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler wurden in der Sowjetunion verfolgt und hätten sich die Skepsis gegenüber der russischen Führung bewahrt. Dagegen seien auch Jüngere von Putin fasziniert. Manche, gerade Ältere, nähmen auch in Deutschland nichts anderes wahr als die russischen Staatsmedien mit ihrer Putin-Propaganda. Doch zugleich ist die Medienskepsis generell hoch: „Viele glauben einfach keinem Medium mehr, egal, welchem.“
14 Prozent halten Invasionen für gerechtfertigt
Am verlässlichsten sind für Panagiotidis Zahlen aus einer repräsentativen Studie zur Einstellung der postsowjetischen Community in Deutschland, die 2016, also schon nach der Annexion der Krim erhoben wurden. Sie belegen Sympathie für die Weltsicht der russischen Führung – aber wenig Neigung, diese mit Gewalt dem Rest der Welt aufzuzwingen. So waren 52 Prozent der Meinung, dass der Westen Russland nicht genug Respekt entgegenbringt. Nur mehr 37 Prozent glaubten aber, dass Russland mehr tun solle, um ethnische Russen im Ausland zu schützen – und gerade mal 14 Prozent hielten russische Interventionen in der ukrainischen Politik für gerechtfertigt.
Die Russlanddeutschen als Moskaus langer Arm in Deutschland, das gäben die Daten keinesfalls her. Eine gemeinsame oder auch nur dominierende Weltsicht gebe es in dieser so heterogenen Community kaum – aber stattdessen unter den Jüngeren inzwischen ein Gefühl, „Scheidungskinder“ zu sein. Als Kinder also, deren Eltern sich zerstritten haben – und die, bei aller Sympathie für den einen, den Kontakt zum anderen nicht verlieren wollen.
„Die Hauptstadt brennt“
Zu ihnen gehört auch der 25-jährige Daniel Heinz, Russlanddeutscher. Er ist in Deutschland geboren, hat in Kiew studiert, ist jetzt wissenschaftlicher Mitarbeiter in Potsdam. An diesem Tag steht er pausenlos mit Freunden in Kiew und Odessa in Kontakt, kauft Zugtickets und versucht herauszufinden, welche Fluchtrouten funktionieren könnten. Dann, zwischendrin, erreichen ihn immer wieder Bilder: „Die Hauptstadt brennt. Man sieht den Himmel nicht. Und die Straßen sind voll.“ Es sei, so sagt er, unglaublich.
Es ist ein rastloser Tag, und vieles mehrt seinen Ärger und sein Unverständnis zusätzlich: Dass der Westen aus seiner Sicht so zögerlich reagiert. „Was ist das für ein Maßnahmenkatalog?“, fragt er. Obendrein hätten die Menschen aus den Separatistengebieten mit ihren russischen Pässen jetzt keine Möglichkeit, einfach in den Westen zu kommen. Die Maßnahmen drohten die Falschen zu treffen, die Menschen, nicht die russische Politik, sagt er, mit verärgertem Ton. Und während er immer zorniger wird, verfällt seine Familie in Schweigen. In der Whatsapp-Gruppe mit seinen Eltern am Morgen: kein Wort vom Krieg. „Einfach Schweigen“, sagt er. Seine Großeltern schweigen nicht. Aber das macht es nicht besser. Sie halten die Ukraine für einen faschistischen Staat. Propaganda aus den russischen Medien, eins zu eins. Daniel Heinz klingt jetzt eher ratlos.
Beim Eishockey hält er zu Russland
Für viele aus der Post-Ost-Community bedeutet es im Alltag ein ständiges Lavieren, die permanente Prüfung, wem man wie viel Meinung zumuten kann. Alexander ist 35, Veranstalter und Hochzeitsmoderator. Manchmal traut er Paare, bei denen der eine aus der Ukraine und der andere aus Russland stammt, es ist alles nicht einfach. Er war selbst mit einer Ukrainerin verheiratet, zusammen haben sie 2014 gegen die Annexion der Krim demonstriert, ukrainisch-russische Einheit auf den Straßen von Hannover. Demin hat eine klare Meinung: „Putin ist ein Diktator.“ Er ist gegen Putin, er sagt das auch. Und zugleich vermeidet er, wenn es nicht nötig ist, Diskussionen. Weil er die Erfahrung gemacht hat, dass es oft sinnlos ist. Dass die Meinungen zu fest stehen.
Demin selbst ist in Kasachstan geboren und in Russland aufgewachsen. Er war Leistungssportler, Tischtennis, wurde vom Staat gefördert. „Putin-Stipendium“, wie er sagt. Er hat vom Staat profitiert. Was ihm jetzt manchmal den Vorwurf einträgt, sich gegen den zu stellen, dem er seine Karriere verdankt. Aber das kann kein Grund sein, findet er. Wenn im Fernsehen Eishockey läuft, hält er noch immer zu Russland. „Ich bin stolz auf dieses Land“, sagt er. „Aber ich bin nicht stolz auf das, was da politisch abgeht.“
Alexander Demin hat Freunde in Kiew und Freunde in Moskau. Ihm geht es um Menschen, nicht um Grenzen. Als vor etwa zehn Jahren der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in Hannover auftrat, damals als Komiker, ging er hinterher mit ihm essen. Es war, erinnert er sich, ein sehr lustiger, unbeschwerter Abend. Jetzt sieht er auf die Bilder aus der Ukraine im Fernsehen, liest die Nachrichten seiner Freunde, sie lassen ihn hilflos zurück. „Ich fühle mich schuldig“, sagt er, „weil das alles einfach passiert und ich nichts tun kann.“