Sexueller Missbrauch in der Kirche: „Rom hat nicht verstanden, worum es geht“
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BDKJ-Bundesvorsitzender Georg Podschun.
© Quelle: BDKJ-Bundesstelle/Mike Nonnenbroich
Hannover. Obwohl 2020 wegen der Corona-Pandemie viele Kirchenaustrittsstellen über Wochen geschlossen hatten, ist die Zahl der Kirchenaustritte nur leicht zurückgegangen. Viele Austrittsstellen berichten zudem von Nachholeffekten in der ersten Jahreshälfte 2021: Termine für den Kirchenaustritt sind bei einigen Amtsgerichten Monate im Voraus ausgebucht. Der Vorsitzende des größten Katholiken-Verbands BDKJ (Bund der Deutschen Katholischen Jugend) kritisiert im RND-Interview, dass die Kirche längst unglaubwürdig geworden sei und fordert von den Bischöfen ein sichtbares Zeichen gegen sexualisierte Gewalt. Zudem müssten die deutschen Bischöfe Rom zu Reformen überzeugen und zur Not einen deutschen Sonderweg einschlagen, „auch wenn wir damit die Einheit der Kirche zerstören“.
Herr Podschun, trotz vieler geschlossenen Kirchenaustrittsstellen wegen der Corona-Pandemie sind die Austrittszahlen weiterhin auf einem hohen Niveau. Wie erklären Sie sich das?
Die hohen Kirchenaustrittszahlen überraschen mich nicht. Schon in der Vergangenheit gab es einen deutlichen Anstieg bei den Austrittszahlen, doch die Bischofskonferenz hat darauf kaum reagiert. Es braucht dringend Veränderungen in der katholischen Kirche, aber nicht bloß aufgrund der vielen Kirchenaustritte. Vielmehr sind Veränderungen im Hinblick auf ethische Fragen und den Umgang mit sexualisierter Gewalt notwendig. Weil diese Veränderungen noch nicht sichtbar sind, bleiben die Austrittszahlen auf einem hohen Niveau. Es wundert mich wirklich nicht, dass Menschen aus der Kirche austreten.
Dass es sexualisierte Gewalt in der Kirche gegeben hat, ist schon seit über zehn Jahren bekannt. Beunruhigt Sie, dass auch heute noch so viele Menschen austreten?
Mich beunruhigt vor allem, dass so viele engagierte Gläubige der Kirche den Rücken zuwenden. Wir erleben gerade, dass Menschen aus dem Kern der Kirche austreten. Das sind zum Beispiel pastorale Mitarbeitende, die ihre Kirchenmitgliedschaft nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren können. In unseren katholischen Jugendverbänden beobachten wir aber, dass die Menschen nach ihrem Austritt trotzdem noch weiter zu uns kommen und sich engagieren.
Engagierte Katholiken treten also aus der Kirche aus, bleiben aber oft weiter aktiv?
Genau, die Mitgliedszahlen in unseren Jugendverbänden sind weiterhin stabil, obwohl viele Menschen aus der Amtskirche austreten. Das zeigt, wenn Kirche demokratisch strukturiert ist und anders gelebt wird, hat sie keine Probleme mit Austrittszahlen.
Die Probleme der Kirche werden immer wieder diskutiert, wenn die neuen Austrittszahlen bekannt werden.
…aber das ist ein großer Fehler. Wenn sich die katholische Kirche nur wegen der Austrittszahlen verändern will, dreht sie sich wieder nur um sich selbst. Es darf nicht in erster Linie darum gehen, wie die Kirche viele Mitglieder und hohe Kirchensteuereinnahmen bekommt. Der erste Schritt muss sein, dass die Kirche das Leid von Menschen anerkennt und sich verändert.
Bischöfe verweisen aber immer wieder darauf, dass Probleme wie sexualisierte Gewalt beim „Synodalen Weg“ besprochen werden. Genügt der Verweis auf dieses Diskussions- und Reformforum oder ist das eine Ausrede?
Nein, das reicht nicht. Der „Synodale Weg“ darf keine Ausrede für Bischöfe sein, selbst tätig zu werden. Die deutschen Bischöfe können schon jetzt Entscheidungen treffen, alle Probleme liegen längst auf dem Tisch. Dazu zählen zum Beispiel die Anerkennung von Leid, von einer neuen Sexualmoral und der Segnung homosexueller Paare. Wir brauchen ein großes sichtbares Zeichen von den Bischöfen, dass sie Gewalt in der Kirche verhindern wollen.
„Alle Probleme liegen längst auf dem Tisch“
Gregor Podschun
BDKJ-Vorsitzender
Bisher gab es nur Diskussionen und warme Worte, aber echte Änderungen wie eine Verschärfung des Kirchenrechts gibt es bisher noch nicht. Die vielen Probleme der katholischen Kirche sind nicht neu und ich kann verstehen, dass viele Gläubige die Geduld verlieren. Denn die katholische Kirche ist längst unglaubwürdig geworden.
Wenn sich einzelne Bischöfe aus Deutschland positionieren, kam aus Rom aber meist eine Absage zu Reformen und Ideen. Das kam in den letzten Monaten gleich mehrmals vor, etwa zur Segnung homosexueller Paare.
Die Signale aus Rom sind für uns äußerst unglücklich. Die Ablehnung des Rücktritts von Kardinal Marx kommt für mich einer Machtausübung aus Rom gleich. Mir hat das gezeigt: Rom hat nicht verstanden worum es geht bei der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt. Wir brauchen jetzt deutsche Bischöfe, die die Kirche in Deutschland verändern.
„Die deutschen Bischöfe müssen Rom überzeugen“
Gregor Podschun
BDKJ-Vorsitzender
Wir können in Deutschland Vorreiter in der katholischen Kirche werden, damit sich weltweit die kirchlichen Strukturen ändern. Denn auch in anderen Ländern kommt es zu sexualisierter Gewalt in der Kirche. Das bedeutet, die deutschen Bischöfe müssen Rom überzeugen und ihre Amtskollegen in der Weltkirche ebenfalls.
Muss die katholische Kirche in Deutschland also unabhängiger von Rom werden?
Kritische Stimmen sagen oft, dass Deutschland einen Sonderweg einschlagen würde und eine Spaltung drohe. Aber wenn Rom nicht erkennt, dass die Reformen des „Synodalen Wegs“ wichtig für die Menschen und die Kirche in Deutschland sind, muss man tatsächlich einen deutschen Sonderweg gehen. Die Priorität muss sein: Wir verhindern sexualisierte Gewalt, auch wenn wir damit die Einheit der Kirche zerstören. Der Schutz der Menschen muss an erster Stelle stehen.
Es gibt zwar Reformbemühungen in Deutschland, wie den „Synodalen Weg“. Aber rechnen Sie in Zukunft mit deutlich weniger Kirchenaustritten?
Nein, ich glaube die Austrittszahlen bleiben auch in den nächsten Jahren auf einem hohen Niveau. Sollte sich die katholische Kirche wirklich schnell verändern, könnten konservative Gläubige austreten, die keine Veränderung wollen. Es wird weiter viele Austritte geben, denn Veränderungen dauern lange Zeit. Aber es kann schon jetzt immer wieder einzelne Zeichen der Veränderung geben, wie das Hissen von Regenbogenflaggen vor einigen Wochen.
Die einzelnen Probleme in der katholischen Kirche liegen schon lange auf dem Tisch. Warum tut sich die Kirche mit Veränderungen und Reformen so schwer?
Die Angst vor Machtverlust verhindert Veränderungen in der Kirche. Aber das hängt nicht an einzelnen Personen, sondern am ganzen System Kirche. Aber ich hoffe, dass wir noch etwas ändern können und Menschen lernen, Macht zu teilen.
„Die Kirche hat den Anschluss an die Lebensrealität junger Menschen verloren“.
Gregor Podschun
BDKJ-Vorsitzender
Als BDKJ-Vorsitzender haben Sie vor allem die Kinder und Jugendlichen im Blick. Laut verschiedener Studien treten die aber oft aus, wenn sie irgendwann ihr erstes Gehalt bekommen. Wie erklären Sie sich das?
Viele junge Menschen entscheiden sich bewusst gegen die Kirche. Sie können die Kirchenmitgliedschaft nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren oder dies passt nicht zu ihrer Lebensrealität. Sie leben in einer Welt, die ist bunt und vielfältig, da ist Homosexualität anerkannt und man diskutiert übers Gendern. Und dann sehen sie in der Kirche eine Institution, die das alles nicht vertritt. Warum sollten sie sich einer solchen Kirche anschließen? Das Problem ist, die Kirche hat den Anschluss an die Lebensrealität junger Menschen verloren.
Welche Folgen hat das für Sie in den katholischen Jugendverbänden?
Wir haben in den Jugendverbänden viele engagierte Menschen, die Kirche verändern möchten. Wenn sich aber nichts ändert, dann werden auch die Jugendverbände bald deutlich schrumpfen. Wir müssen uns deshalb dringend die Frage stellen: Was machen wir, wenn sich die katholische Kirche nicht verändert? Was machen wir, wenn der „Synodale Weg“ scheitert? Davon hängt die Existenz der Kirche in Deutschland und die der Jugendverbände ab.
RND