Politiker stirbt nach Schüssen

Japan nach Attentat auf Ex-Premier Abe in Schockzustand

Japaner verfolgen die Berichterstattung über das tödliche Attentat auf den ehemaligen Premier Shinzu Abe auf einem öffentlichen Bildschirm.

Japaner verfolgen die Berichterstattung über das tödliche Attentat auf den ehemaligen Premier Shinzu Abe auf einem öffentlichen Bildschirm.

Tokio. Als Shinzo Abe am Freitagmittag japanischer Zeit zusammensackt, ist etwas Paradoxes geschehen. Der Mann, der seine Karriere dafür eingesetzt hat, dem ostasiatischen Land ein stärkeres Militär zu bescheren, ist offensichtlich von einem Mann erschossen worden, der einst für ebendiese Institution gearbeitet hat: die Selbstverteidigungskräfte.

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Wegen der pazifistischen Nachkriegsverfassung dürfen sie nicht Militär heißen, haben aber de facto diese Rolle. Und kaum einer im Land hat sich so sehr gewünscht, dass diese Institution gestärkt werden würde, wie Abe. Rund sechs Stunden nach einem Attentat in der westjapanischen Stadt Nara starb der Ex-Premierminister an seinen Verletzungen.

An einer Straßenkreuzung hatte er eine Wahlkampfrede im Zuge der am Sonntag anstehende Oberhauswahl gegeben, der zweiten Kammer des japanischen Parlaments. Als der Tod Abes bestätigt ist, befindet sich das Land längst in einer Art Schockzustand. Fernsehsender berichten mit minutenweisen Updates, Freunde leiten sich auf den Smartphones Nachrichten weiter. Längst ist bekannt, dass Abe im Krankenhaus kein Lebenszeichen mehr gab.

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Der Tod des 67-Jährigen hinterlässt in der japanischen Politik eine große Lücke. Ab 2006 und 2012 hat Shinzo Abe Japan jeweils für ein und knapp acht Jahre regiert – länger als jeder andere Premierminister. Zweimal trat er nach diversen Skandalen – vom millionenfachen Verlust von Rentendaten über Vetternwirtschaft bis zur illegitimen Verwendung von Steuergeldern – mit schlechten Beliebtheitswerten zurück. Zweimal gab er offiziell eine seltene Darmerkrankung als Grund an, von der er sich nach einer kurzen Ruhephase jeweils wieder zu erholen schien.

Spross einer Politikerdynastie

Aber dass die politische Karriere Shinzo Abes trotz dieser Skandale so lang und einflussreich verlaufen ist, sagt auch einiges über das Talent des nationalistisch eingestellten Politikers aus. Als Spross einer Politikerdynastie wurde er 52-jährig einst zum jüngsten Premier seines Landes. Schon damals machte er kein Geheimnis daraus, dass er Japan durch seine Verfassung, die durch die im Zweiten Weltkrieg siegreichen USA oktroyiert worden war, als so etwas wie kastriert ansah. Denn ohne schlagkräftiges Militär sei Japan kein „normaler Staat“.

Japans Ex-Premier: Shinzo Abe nach Attentat gestorben

Der ehemalige japanische Regierungschef Shinzo Abe ist infolge des Mordanschlags bei einer Wahlkampfveranstaltung gestorben.

Im bis heute mehrheitlich pazifistisch eingestellten Land machte sich Abe mit dieser Haltung immer wieder Feinde, holte sich im konservativen Lager aber auch Applaus ab und baute darauf seine Karriere auf. In seiner ersten Phase als Premierminister wertete er die Selbstverteidigungskräfte zu einem eigenen Ministerium auf. Als er ab 2012 erneut regierte, beschloss er, dass Japans Verteidigungsministerium fortan auch strategischen Partnerstaaten zu Hilfe eilen dürfe, sofern diese und damit auch Japan existenziell bedroht seien. Kritiker bewerteten dies als verfassungswidrig. Allerdings war es Abes größtes Ziel, die Verfassung umzuschreiben und den für Konservative ungeliebten Pazifismusartikel 9, der die Kriegsführung und ein vollwertiges Militär verbietet, zu beseitigen. Dafür haben Abe trotz starker Mehrheiten stets die nötigen Machtverhältnisse gefehlt.

Und die Ironie, dass als Abes mutmaßlicher Mörder nun ein Mann festgenommen wurde, der eben dem Quasimilitär angehört hat, wird wohl noch lange wie ein Schatten über dem Leben und Wirken Shinzo Abes liegen. Denn Abes Tod dürfte auch eine Debatte darüber entfachen, wie politische Veranstaltungen und öffentliche Events generell abgesichert werden müssen. In Japan ist man stolz darauf, dass es kaum Straßenkriminalität gibt und man vor der Exekutive wie Polizisten und Sicherheitsoffiziellen eigentlich keine Angst haben muss.

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Mordwaffe war selbst gebastelt

Kaum ein Land gilt als so sicher wie Japan. Allerdings hat sich der mutmaßliche Mörder seine Mordwaffe selbst gebastelt. Da half auch das restriktive Waffenrecht wenig. So ordnete der derzeitige Premierminister Fumio Kishida, der wie Abe der übermächtigen Liberaldemokratischen Partei (LDP) angehört, noch am Freitagabend an, dass Politiker künftig stärker bewacht und gesichert werden sollen. Es ist eine Reaktion, die nicht zuletzt Symbolwirkung haben dürfte, denn Schüsse aus der Ferne wären wohl weiterhin möglich.

Die Maßnahme erinnert allerdings an frühere Antworten japanischer Politik auf Krisensituationen. So wurden auf einen Giftgasanschlag in der Tokioter U‑Bahn im Jahr 1995 diverse Mülleimer in der Stadt beseitigt. Auch in der Pandemie fiel Japan teilweise durch Symptombekämpfung auf: Während nur wenig getestet wurde und die Impfungen verspätet begannen, wurden sofort die Grenzen geschlossen – und bleiben bis heute praktisch dicht. An die Gesellschaft senden solche Reaktionen allerdings das schnelle Signal, dass die Politik ein akutes Problem ernst nimmt, wenngleich sie noch keine Lösung parat hat.

Heikle Sicherheitslage oder Einzelfall?

So ist es wohl auch im Fall des Attentats auf Shinzo Abe, über dessen Gründe über die nächsten Tage und Wochen noch ausführlich debattiert werden wird. Wahrscheinlich ist allerdings, dass die Schüsse kaum auf eine generell heiklere Sicherheitslage im Land hindeuten, sondern eher einen Einzelfall markieren.

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Unterdessen hat Shinzo Abe, um den nun inmitten des tragischen Todes auch seine politischen Gegner trauern, eine Hinterlassenschaft sicher: Über die Rolle der Selbstverteidigungskräfte wird inmitten des Ukraine-Kriegs und nun noch wegen dieses Attentats intensiv diskutiert.

 

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