Angst vor Nahrungsmittelknappheit: Putin setzt Lebensmittel als Waffe ein
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Virginijus Sinkevicius ist seit 2019 EU-Kommissar für Umwelt, Ozeane und Fischerei.
© Quelle: IMAGO/photothek
Brüssel. Virginijus Sinkevicius ist seit 2019 EU-Kommissar für Umwelt, Ozeane und Fischerei. Er stammt aus Litauen und ist 31 Jahre alt.
Herr Kommissar, wird der Krieg gegen die Ukraine zu einer Lebensmittelknappheit in Europa führen?
Nein, wir werden in der EU voraussichtlich keine Versorgungsprobleme bekommen. Wir haben genug Getreide, auch, um es zu exportieren. Aber der Krieg wird sich dennoch unweigerlich bei uns auswirken. Wir müssen jetzt alles dafür tun, dass er so schnell wie möglich beendet wird. Denn je länger dieser Krieg dauert, desto größer ist das menschliche Leid und desto größer werden die Probleme, die wir in den kommenden Jahren lösen müssen. Denken Sie nur an den Wiederaufbau in der Ukraine.
+++ Alle Entwicklungen zum Krieg gegen die Ukraine im Liveblog +++
Kann es sich Europa leisten, auf Getreide aus Russland oder der Ukraine zu verzichten?
Ich möchte wirklich nicht, dass die Europäerinnen und Europäer Angst vor einer Nahrungsmittelknappheit haben – auch wenn wir noch nicht hundertprozentig sagen können, wie sich der Krieg auf die Ernte in der Ukraine auswirken wird. Die Regierung in Kiew bittet zum Beispiel die Bauern in der Westukraine darum, ihre Felder zu bestellen. In diesem Landesteil sei das möglich, heißt es. Das bedeutet, dass nicht die gesamte Ernte in der Ukraine in Gefahr ist, soweit man das heute sagen kann.
Putin hat ein Exportverbot für Weizen, Gerste und Roggen erlassen. Setzt er Lebensmittel quasi als Waffen ein?
Es sind ja nicht nur Nahrungsmittel: Diktatoren wie Putin setzen alles als Waffe ein, worauf wir in der EU angewiesen sind oder sein könnten. Das können fossile Brennstoffe sein, andere Rohstoffe oder bestimmte Waren wie Düngemittel. 15 Prozent des Kunstdüngers weltweit stammt aus russischer Produktion. Je größer unsere Abhängigkeit von diesen Stoffen ist, desto stärker wird Putin das ausnutzen. Unser Ziel muss es sein, diese Abhängigkeit zu verringern.
Sie sagten, dass Europa zurechtkommen wird. Wie sieht es aber in Ländern in Afrika oder im Nahen Osten aus?
Diese Länder sind sehr viel mehr von Getreidelieferungen aus Russland oder der Ukraine abhängig. Wir müssen sehr wachsam sein und beobachten die Situation im Rahmen unserer internationalen Entwicklungskooperation genau. Wenn wir mit europäischen Überschüssen helfen können, dann sollten wir das tun.
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© Quelle: Reuters
Sind schon Hilfsprogramme angelaufen?
Momentan gibt es noch keine Knappheit. Wir werden Auswirkungen im Bereich der Landwirtschaft mit Verzögerung sehen. Es könnte in den nächsten ein oder zwei Jahren eng werden. Wir können zwar noch nicht abschätzen, wie schwer die Probleme in Afrika und im Nahen Osten wirklich sein werden. Aber wir müssen die Lage sehr genau beobachten, um den richtigen Zeitpunkt für notwendige Hilfen nicht zu verpassen.
Müssen wir die Landwirtschaft, so wie wir sie in der EU betreiben, neu definieren? Muss zum Beispiel Brachland für den Anbau von Pflanzen genutzt werden? Braucht es mehr Einsatz von genetisch verändertem Saatgut oder weniger Ökolandbau, der auch weniger Ertrag bringt?
Mir ist sehr wichtig, den Schutz der biologischen Vielfalt nicht gegen die Landwirtschaft auszuspielen. Ich will klar sagen: Es liegt im Interesse der Landwirte, ihre Arbeit auf fruchtbaren, gesunden Böden zu verrichten, nicht auf kranken Böden, auf denen tonnenweise Düngemittel verwendet wurden. Die natürlichen Werte gesunder Ökosysteme sind nicht zu ersetzen. Wir müssen sie schützen. Wenn etwa Bienen als Bestäuber entfallen, dann haben wir ein gewaltiges Problem.
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