Skandinavien macht auf: mit Corona leben lernen

Menschen stehen im September vor dem Nachtclub „La Boucherie“ in Kopenhagen. (Archivbild)

Menschen stehen im September vor dem Nachtclub „La Boucherie“ in Kopenhagen. (Archivbild)

„Wir sind in einer neuen Phase der Pandemie. Wir müssen mit vielen Ansteckungen leben und wir können mit vielen Ansteckungen leben. Wir müssen es hinnehmen, dass sich viele, ja, die meisten von uns, im Laufe des Jahres mit Corona infizieren werden.“ Mit diesen Worten kündigte der norwegische Ministerpräsident Jonas Gahr Støre das Anfang des Endes der Corona-Maßnahmen in seinem Land an.

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Norwegen ist nur eines der Länder, das trotz hoher Infektionszahlen in dieser Woche Öffnungsschritte bekannt gegeben hat: Schweden, Dänemark, Großbritannien und Finnland gehen den gleichen Weg. In Dänemark hat man die Maskenpflicht ganz, in Großbritannien weitestgehend abgeschafft, in Schweden fällt die Empfehlung, eine Maske zu tragen. Theater, Kinos und Restaurants dürfen wieder voll besetzt, Impf- und Testnachweis müssen nicht mehr vorgezeigt werden. Selbst Spanien debattiert, eine Corona-Infektion wie eine Grippe zu behandeln, also künftig weder Fallzahlen zu registrieren noch Quarantäne zu verhängen.

Maskenlos feiern: Die Normalität ist in Dänemark zurück

Die Normalität, sie scheint wieder denkbar in Teilen Skandinaviens. Wer in diesen Tagen nach Dänemark reist, erlebt einen Alltag wie vor der Pandemie. Kaum einer mehr hat eine Maske über Mund und Nase, wenn er oder sie mit der Bahn fährt oder einkaufen geht. Das Nachtleben in Kopenhagen, Malmö und anderen Städten im Land ist wieder erwacht. Gleichzeitig zeigt sich, wie die vergangenen zwei Jahre die Menschen geprägt haben: Während die meisten Masken ablegen und sich über die zurückgewonnene Freiheit freuen, haben andere nach wie vor – auch geboostert – noch Angst vor einer Infektion.

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Die Abschaffung der Corona-Regeln wird von einer großen Mehrheit der Bevölkerung getragen – in allen nordischen Staaten. In Dänemark etwa hieß es, die Menschen fühlten sich sicher und hätten keine Angst vor Corona. Geboosterte, die sich mit Covid-19 infizieren, hätten nur wenige Symptome. „Ihr Risiko, schwer zu erkranken, ist gering und damit auch die gefühlte Notwendigkeit der Regeln“, sagt der Soziologe Merlin Schaeffer von der Universität Kopenhagen.

Man richtet den Blick nicht auf eine Sieben-Tage-Inzidenz von mehr als 5000, sondern auf die Intensivstationen. Dort aber ist die Lage verhältnismäßig entspannt. Hatte Dänemark 2021 noch eine Übersterblichkeit vor allem in der Gruppe der über 75-Jährigen zu verzeichnen, ist man nun fast wieder auf einem normalen Niveau, schreibt das Statens Serum Institut, das Äquivalent zum Robert-Koch-Institut in Deutschland.

Omikron und Impfquote sorgen für neue Corona-Lage

Ähnliche Argumente bringen Finnland, Norwegen und Schweden vor, die allerdings allesamt noch wenige Einschränkungen behalten. Die schwedische Ministerpräsidentin Magdalena Andersson sagte, die Kombination einer hohen Impfquote, vor allem in der am meisten gefährdeten Gruppe der über 60-Jährigen, und den verhältnismäßig milden Verläufen durch Omikron bringe das Land in eine neue Lage, sodass die allermeisten Regeln am 9. Februar 2022 abgeschafft werden. Einige Maßnahmen etwa in Altenheimen und Krankenhäusern bleiben zunächst erhalten.

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Norwegen und Finnland geben an, nicht riskieren zu wollen, dass die Infektionen zu schnell steigen. Das würde bedeuten, dass zu viele Menschen in Quarantäne sind und eine gewisse Infrastruktur nicht aufrecht erhalten werden kann. Deshalb erfolgt die Öffnung schrittweise, um die Versorgung der Bevölkerung garantieren zu können. In Großbritannien brachten lockere Regeln das Gesundheitssystem an den Rande des Kollaps.

Dank Impfung und Omikron: Corona hat den Schrecken verloren

Corona hat seinen Schrecken verloren, zumindest mit Omikron. Jetzige Öffnungsschritte senden Signale an die Bürgerinnen und Bürger, die mit Entbehrungen die Regeln eingehalten haben und die coronamüde wurden. Die Menschen, sie haben eine Sehnsucht nach Normalität. „Die letzten zwei Jahre waren hart für viele von uns. Wir mussten es sein lassen, unsere Liebsten zu treffen. Unser Leben war ärmer, als es normalerweise ist. Ich weiß, dass die heutige Nachricht eine große Erleichterung ist“, sagte Andersson.

Eine Sehnsucht, die auch viele Deutsche verspüren: Ausgehen ohne Zugangsbeschränkungen, Einkaufen und Busfahren ohne Mund-Nasen-Schutz, Treffen mit anderen Menschen ohne Abstandsregeln, Tanzen in der Disco, Feiern auf Festivals. Und das alles trotz der höchsten Infektionszahlen, die es in der Corona-Pandemie gab? In Norwegen, Schweden, Dänemark und Finnland geht man sogar davon aus, dass die Infektionszahlen mit den Lockerungen steigen werden – einzig: Man fürchtet diesen Anstieg nicht mehr.

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Mit dem Virus leben oder die Gefahr der Durchseuchung

Auch hierzulande gab es schon vor Omikron die Diskussion, ob man lernen müsse, mit dem Virus zu leben, ohne sich endlos einschränken zu müssen. Virologe Hendrik Streeck ist einer jener, die forderten, mit dem Virus leben zu lernen, während andere vor einer Durchseuchung, die auch neue Virusvarianten hervorbringen kann, warnen. Vor wenigen Tagen sorgte eine TV-Sendung mit Jan Böhmermann für Aufsehen, der satirisch monierte, dass Kinder in Deutschland nicht ausreichend geschützt werden. Zahlreiche Schülerinnen und Schüler starteten den Aufruf #WirWerdenLaut, weil sie nicht als Experiment der Durchseuchung dienen wollen.

Auch einige Virologinnen und Virologen in den nordischen Ländern hätten auch gerne den Höhepunkt der Omikron-Welle abgewartet, um die Corona-Regeln abzuschaffen. „Auch wenn die Pandemie in eine neue Phase übergegangen ist, ist sie definitiv nicht vorbei“, sagt der schwedische Staatsepidemologe Anders Tegnell am Donnerstag auf einer Pressekonferenz. Doch auch hier ist die Zustimmung breit: Die Bevölkerung wisse, dass neue Regeln wieder eingeführt werden können, wenn sich die Pandemielage ändert, weil beispielsweise eine neue Virusvariante auftaucht. In Dänemark und Großbritannien kennt man das bereits, beide Länder hatten im vergangenen Jahr einen „Freedom Day“ gefeiert – ehe Omikron entdeckt wurde und aufgrund der raschen Ausbreitung wieder Maßnahmen eingeführt wurden.

German Angst oder nordische Leichtigkeit?

Ist es die berühmte German Angst, die für eine Zurückhaltung in Deutschland sorgt? Nach einer aktuellen Umfrage befürwortet die Mehrheit der Deutschen Corona-Einschränkungen. Auch die Medien sind hierzulande nach wie vor voll von Omikron und Corona, von Impfpflicht und Regeln, während in den skandinavischen Medien viele Corona-Themen nur noch Randnotiz sind. Am Donnerstagabend berichtete die größte norwegische Zeitung VG online über das Breivik-Urteil, die schwedische Boulevardpresse „Expressen“ über die Schulpolitik und auf dem Portal der auflagenstärksten Zeitung Dänemarks, Jyllands Posten, geht es um Klimapolitik. „Freedom Day“, Corona, Maskenpflicht, Schutzimpfung – war da was?

Übertreiben die Deutschen oder sind die nordischen Länder zu leichtsinnig? Geht es nach der Weltgesundheitsorganisation (WHO), sollten die Menschen zunächst noch vorsichtig sein. WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus sagte in dieser Woche: „Wir sind besorgt über das Narrativ, dass Omikron weniger schwere Krankheitsverläufe verursacht und dass der Zugang zu Impfstoffen da ist und deswegen keine Einschränkungen mehr notwendig seien. Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt als das.“

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Deutlich höhere Impfquote im Norden als in Deutschland

Dass die nordische Realität bald auch die deutsche sein wird, ist derzeit nicht absehbar. Das liegt nicht nur an der anderen Einstellung zu Corona, sondern auch an einem sehr wichtigen Fakt: Die Skandinavierinnen und Skandinavier gehen mit einer höheren Immunität ins dritte Corona-Jahr. Anders als in Deutschland ist die Impfquote vor allem in der vulnerablen Gruppe hoch.

Schon bei der ersten Öffnung im September ließ Dänemark die gesellschaftsbedrohliche Ausnahmesituation fallen, weil zum einen viele geimpft waren, zum anderen weil all jene, für die es eine Impfempfehlung gab, auch ein Impfangebot erhalten hatten. Damals sagte der dänische Gesundheitsminister Magnus Heunicke, dass durch das Impfangebot, das zudem gut angenommen wurde, die rechtliche Grundlage für Maßnahmen entfalle. Auch Andersson verkündete am Donnerstag, Covid-19 werde nicht mehr als gesellschaftsgefährdende Krankheit eingestuft, weil die Impfquote hoch genug sei, um kritische Verläufe zu minimieren.

Skandinavien knüpft „Freedom Day“ an Erfolg der Impfkampagne

In Schweden sind 74 Prozent der gesamten Bevölkerung mindestens zweimal geimpft. In der Altersgruppe der über 70-Jährigen haben weit mehr als 90 Prozent einen Impfschutz. In Deutschland wird die vulnerable Gruppe ab 60 ausgewiesen, hier gelten 88,2 Prozent als doppelt geimpft, nur 74,7 Prozent haben eine Booster-Impfung erhalten. In Dänemark sind mehr als 95 Prozent der über 70-Jährigen mindestens doppelt geimpft, in Norwegen sind es in der Altersgruppe 65 bis 74 gar 96,7 Prozent.

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Wenn nun halb fasziniert, halb neidisch gen Norden geblickt wird, hat das also auch etwas mit der schleppenden Impfkampagne in Deutschland zu tun. Denn während man in Schweden und Dänemark nahezu alle Empfehlungen zu Corona eingestellt hat, bleibt eine aufrecht: Impfen.

Anmerkung der Redaktion: In einer älteren Version des Textes stand, dass in Schweden bereits knapp 84 Prozent der Gesamtbevölkerung geimpft sind. Es sind 74 Prozent.

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