Ukrainischer SOS-Kinderdorf-Chef im Interview

„Die Kinder sind traumatisiert, verängstigt, sie haben ihre Verwandten verloren“

Ukrainische Kinder in Cherson spielen und schwenken eine ukrainische Fahne an einem verlassenen Kontrollpunkt. Neue russische Raketenangriffe haben zu großflächigen Blackouts in der Ukraine und der Republik Moldau geführt.

Ukrainische Kinder in Cherson spielen und schwenken eine ukrainische Fahne an einem verlassenen Kontrollpunkt. Neue russische Raketenangriffe haben zu großflächigen Blackouts in der Ukraine und der Republik Moldau geführt.

Der 31. Januar 2023 ist ein Tag ohne besondere Vorkommnisse in der ukrainischen Hauptstadt. „Ich bin in Kiew, hier ist alles ruhig“, bestätigt Serhii Lukashov, der Leiter von SOS-Kinderdorf Ukraine am Telefon. Sonst sei er „immer unterwegs – in praktisch allen Regionen der Ukraine“, fügt er hinzu. Es gibt viel zu tun, die Organisation, die noch vor Beginn des russischen Angriffskriegs ihre Schützlinge ins Ausland evakuierte, begann schon auf der Flucht mit einem Neuanfang. Und ist in dem Jahr seit dem Kriegsbeginn deutlich gewachsen.

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Herr Lukashov, wie ist der Winter in der Ukraine bislang gewesen? Das war ja angesichts der anhaltenden russischen Bombardements von Energie- und Wasserversorgung die große Angst: dass die Menschen bei Temperaturen tief unter dem Gefrierpunkt in eiskalten Wohnungen und Kellern frieren und erfrieren.

Zum Glück ist der Winter wechselhaft. Die Temperatur war bisher nicht zu niedrig und lag größtenteils über null. Das Problem war jedoch der Mangel an Strom. Was bedeutet, dass man nicht kochen kann, da viele Häuser mit Elektroherden versehen sind. Und für die Kinder bedeutet es, dass sie keinen Internetzugang haben. Der ist aber notwendig, denn die meisten Kinder in der Ukraine, geschätzte 60 Prozent, werden online beschult. Natürlich gibt es grundlegende Probleme wie Dunkelheit und Kälte in den Wohnungen, weil viele mit elektrischen Heizungen ausgestattet sind. Wir von den SOS-Kinderdörfern in der Ukraine kaufen deshalb Stromgeneratoren, Powerbanks und Öfen, die wir in erster Linie an die Pflegefamilien und an die Sammelunterkünfte für Binnenvertriebene verteilen. Die Regierung hat zudem ein „Unbreakable Points“-Programm ins Leben gerufen. Dabei handelt es sich um Räumlichkeiten, die in vielen Gemeinden eingerichtet wurden, in die die Menschen kommen können, um sich im Winter aufzuwärmen, ihre Telefone aufzuladen, warmen Tee zu trinken und eine Zeit in einer sicheren und warmen Umgebung zu bleiben. Wir bei den SOS-Kinderdörfern sind dabei, solche Räumlichkeiten für Kinder und Familien mit Kindern, einzurichten, damit speziell Kinder diesen Zugang haben.

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„Die Kinder brauchen Orte zum Spielen, für Kommunikation und Interaktion“

Laut Ihrer Website sind derzeit 3,4 Millionen Kinder in der Ukraine in Not. Was bedeutet in Not konkret?

Das variiert sehr stark. Im Osten sind die fürs Leben grundlegenden Bedürfnisse nicht erfüllt. Die Menschen und Familien mit Kindern stehen unter Beschuss, es fehlt ihnen an Nahrung und Wasser, sie frieren, ihr Leben ist in Gefahr. Die meisten der Kinder dort werden evakuiert – die Regierung ermutigt die Familien, die gefährdeten Gebiete zu verlassen, und evakuiert die Menschen kostenlos, bringt sie in zentralen oder westlichen Gebieten des Landes unter. Aber leider bleiben viele Familien – oft aus privaten Gründen – in den gefährdeten Gebieten, und das ist wirklich schlimm für die Kinder. Es ist dort traumatisierend und schlicht lebensgefährlich. Die SOS-Kinderdörfer liefern ihnen humanitäre Hilfe und versuchen, sie zur Evakuierung zu überreden, was in einigen – nicht allen – Fällen auch gelingt. Bei den Kindern in den sichereren Gebieten in der Zentral- und Westukraine dagegen sind die Bedürfnisse anders. Sie brauchen psychosoziale Rehabilitation, denn sie sind traumatisiert, verängstigt, sie haben ihre Verwandten verloren, sie haben den Tod von Menschen gesehen, die sie kannten. Sie brauchen Hilfe bei der Rückkehr zum Schulunterricht, denn die meisten haben alles verloren, auch ihre Notebooks oder Tablets. Daher können die Kinder nicht am Online­schul­unterricht teilnehmen, wo die Fortführung von Bildung doch so wichtig ist. Die Kinder hier brauchen Orte zum Spielen, für Kommunikation und Interaktion.

Und die Eltern?

Die Eltern brauchen eine Beschäftigung. Sie brauchen auch eine angemessene Unterkunft für die Familie, denn die meisten von ihnen leben in Gemeinschafts­unterkünften – in Sporthallen oder in Schulen, die zu Sammelunterkünften umfunktioniert wurden. Was natürlich nicht so angenehm ist. Wir helfen mit allem, was wir können. Wir verteilen Hefte, wir schaffen Spielzimmer und ein kinderfreundliches Umfeld. Wir helfen den Eltern, eine Anstellung zu finden. Was möglich ist, wird getan.

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Entführte Kinder: „Das ist eine große Tragödie für unser Land“

Herr Lukashov, die SOS-Kinderdörfer in der Ukraine haben schon vor Ausbruch der Kampfhandlungen des russischen Angriffskriegs die Kinder aus den damaligen SOS-Einrichtungen evakuiert. Wussten Sie damals schon, wie es kommen würde?

Ja. Ich rechnete mit Krieg. Wir begannen schon im November 2021 mit entsprechenden Vorbereitungen. Wir schickten Briefe an offizielle Organisationen, an Regierungskräfte, forderten sie auf, Evakuierungen zu planen. Leider wurde nichts unternommen. Und wie Sie vielleicht wissen, wurden viele Kinder erst einmal in der Kriegszone zurückgelassen. Einige von ihnen wurden von den Besatzern verschleppt und nach Russland gebracht. Sie sind verschollen und wir werden sie finden müssen. Das ist eine große Tragödie für unser Land. Wir hatten vor dem Krieg für unsere Pflegefamilien eine Art Urlaub arrangiert. 1400 nahmen teil, wir haben sie nach Mitteleuropa gebracht und sie dort im Netzwerk der SOS-Kinderdörfer untergebracht. Außerdem haben wir kurz danach etwa 30.000 Menschen aus dem Kriegsgebiet in die sicheren Gebiete in der Westukraine evakuiert.

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Wie waren die ersten Wochen nach Kriegsbeginn für Sie, als auch Mitarbeiter der SOS-Kinderdörfer außer Landes flohen oder in Bunkern und Kellern festsaßen? Hatten Sie da Angst, dass alles im Chaos untergeht?

Ich bin, das muss ich hier sagen, sehr stolz auf all meine Kollegen. Natürlich hatten wir Angst und sind geflohen – die meisten von uns, speziell die Mitarbeiter im Osten. Aber schon auf der Flucht haben unsere Leute anderen Menschen geholfen. Sie bauten, wo sie gerade waren, die sozialen Dienste auf. Ein Beispiel: Eine unserer Kolleginnen saß während der Besetzung in der Region Tschernihiw fest. Sie hatte Angst vor dem russischen Angriff auf Kiew gehabt und siedelte in ein Dorf dort um – und das wurde dann von der russischen Armee besetzt.

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Ein Albtraum.

Gott sei Dank erwies sich bei uns in der Ukraine so ziemlich alles als überaus widerstandsfähig. Wir hatten auch nach Kriegsbeginn weiterhin ein funktionierendes Internet, ein funktionierendes Bankensystem und eine funktionierende Telefonverbindung. Also schickten wir der Kollegin Geld, und sie eröffnete sofort ein Zentrum für humanitäre Hilfe dort, wo sie gefangen war. Sie war zugleich Opfer und Helferin. Sie kaufte ein und verteilte die Sachen, und sie richtete einen Raum für soziale und pädagogische Dienste ein. Ähnliches geschah überall. So haben wir inzwischen mehr als 20 Sozialzentren zur Stärkung der Familien im ganzen Land. Wir haben gleich in den ersten Tagen des Krieges, praktisch noch auf der Flucht, mit der Arbeit begonnen.

„Wir waren zur Stelle, um ihr Leben zu retten“

Inzwischen haben Sie mehr als doppelt so viele Mitarbeiter als zu Kriegsbeginn, die Zahl der Betreuten ist sogar von etwas über 1000 – so war zu lesen – auf 124.000 gewachsen. Wie kamen die SOS-Kinderdörfer wieder auf die Beine?

Nun, wir hatten das Glück, internationale Solidarität sowie die Unterstützung durch die weltweite Föderation der SOS-Kinderdörfer zu bekommen. Wir haben Gelder erhalten, und mit Geld ist alles einfacher. Wenn wir von 124.000 Menschen sprechen – viele von ihnen haben wir nur einmalig grundlegend betreut. Wir haben sie aus dem Kriegsgebiet an sichere Orte im Westen des Landes gebracht. Die Menschen, die unsere dauerhafte Unterstützung erhalten, sind vielleicht 20.000. Für alle aber war es ein existenzieller Dienst. Wir waren rechtzeitig zur Stelle, um ihr Leben zu retten.

Gibt es überhaupt noch wirklich sichere Evakuierungsgegenden innerhalb der Ukraine? Russische Bombardements fanden doch eine Zeit lang gefühlt überall im Land statt.

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Natürlich hat uns das beunruhigt. Theoretisch könnten die Raketen jeden Ort im Land treffen. Aber zum Glück wird unsere Armee immer besser. Und mit jedem weiteren Monat werden die Raketenangriffe seltener und auch weniger gefährlich. Beispielsweise wurde die Hauptstadt Kiew In den letzten zwei Monaten gleich mehrmals angegriffen. Elf Menschen wurden in Kiew durch russische Raketen getötet. Aber bei etwa drei Millionen Einwohnern der Hauptstadt ist das statistisch gesehen – auch wenn das erst einmal seltsam klingt – nicht viel. Die SOS-Kinderdörfer arbeiten immer noch hier. Wir verlassen das Land nicht, wir verlassen auch nicht die Stadt. Wir setzen unsere Arbeit fort. Wir zittern also nicht. Wir sind auf der Hut, aber wir haben keine Angst.

„Wir sind schon ganz schön zäh. Niemand kann uns brechen“

Wie wird derzeit evakuiert? Die Züge fahren noch?

(lacht) Sie fahren sogar nach Fahrplan. Ich bin erstaunt. Ich reise oft mit der Bahn, und es funktioniert alles tipptopp. Die Tankstellen sind auch in Betrieb – man kann also auch mit dem Auto fahren. Onlinebanking ist kein Problem. Ja, wir sind schon ganz schön zäh. Niemand kann uns brechen.

Wie kann man derzeit Kindern helfen, wenn sie sich in Städten wie Bachmut befinden, in Städten, die heftig umkämpft sind? Sie erwähnten bereits, dass man auch nicht alle Familien an der Frontlinie im Osten zur Flucht überreden konnte.

Nach den groben statistischen Erhebungen des Militärs sind dort noch etwa 2 Prozent der Bevölkerung. Speziell in Bachmut halten sich noch zwischen 20 und 50 Kinder auf, was schlimm ist. Tapfere Freiwillige, tapfere humanitäre Helfer kommen immer wieder dorthin, um Hilfe zu leisten und widerstrebende Familien davon zu überzeugen, ihr Haus zu verlassen. Die ukrainische Armee stellt Transportmittel zur Verfügung, um sie in ein sicheres Gebiet zu bringen. Leider kann in unmittelbarer Nähe der Frontlinie wenig mehr getan werden, als die Kinder aus dem Gebiet zu bringen. Städte wie Cherson sind zwar einigermaßen sicher – aber im Wochenabstand gibt es auch hier Artillerie- oder Raketentreffer. Saporischschja und Dnipro sind zwar nicht unmittelbar bedroht, können aber von Raketen erreicht werden. Auch dort arbeiten die örtlichen Sozialdienste noch, Züge kommen pünktlich, und die Menschen können einsteigen, wenn sie wollen.

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Die SOS-Kinderdörfer setzen traditionell auf psychologische Betreuung. Wie kann die psychologische Betreuung für 20.000 Betreute gewährleistet werden, wenn es nur 208 Mitarbeiter gibt, die ja auch nicht alle Psychologen sind?

Nun, wir verwenden das Kaskadenprinzip, bei dem die qualifizierten Psychologen die anderen Menschen in verwandten Berufen schulen – Pädagogen, Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, andere Freiwillige werden zu Para-Therapeuten. Dabei wird ein von Unicef zertifiziertes Programm für kurzfristige intensive Interventionen genutzt, das „Kinder im Krieg“ heißt und darauf abzielt, die emotionale Stabilität der Familien zu unterstützen, Kindern zu helfen, zu einem normalen Verhalten zurückzukehren.

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„Kinder sind stärker, als sie aussehen“

Die Traumata von Kindern, die Gewalt, Bombardement, Heimatverlust erlitten haben, die aus Freundschaften, Kindergärten, Schulen gerissen wurden, die ihre Eltern oder andere Bezugspersonen verloren haben und zum Teil hilflos und allein durch ein Land im Krieg unterwegs waren, sind unvorstellbar. Was kann man als Psychologe tun, um das seelische Gleichgewicht so massiv in ihrem Vertrauen erschütterter Kinder jemals wiederherzustellen?

Das alles ist in der Tat eine Tragödie, und wir werden eine ganze Generation lang mit ihrer Bewältigung zu tun haben. Aber Kinder sind auch sehr widerstandsfähig, sie sind stärker, als sie aussehen. Wenn sie schnell und qualifiziert behandelt werden, können sie sich in den meisten Fällen seelisch erholen. Wir haben ein besonderes Programm für Kinder, die im Krieg körperlich verletzt wurden, oder für die, die etwa den Tod ihrer Eltern miterlebt haben. Das sind wirklich beängstigende Erfahrungen, und diese Kinder brauchen viel psychotherapeutisch qualifizierte und aufwendige Unterstützung. Wir gehen auch das an, wissend, dass es in diesen Fällen lange dauern wird. Aber bei den meisten Kindern geht es schneller – wenn wir sie sofort unterstützen. Wir haben die Mittel zur Bewältigung von Traumata, wir haben die qualifizierten Psychologen, wir können den Kindern helfen. Sie sind nicht dazu verdammt, ein Leben lang unglücklich zu sein. Sie können glücklich werden.

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Gab es Schicksale, die Sie besonders betroffen gemacht oder erschüttert haben?

Da war ein besonders tragischer Fall. In einem Dorf in der Nähe der Frontlinie lebte ein alleinstehender Vater mit zwei Kindern, der sich weigerte, evakuiert zu werden. Er sorgte sich um sein Haus und lehnte alle Vorschläge zur Umsiedlung in sichere Gebiete ab. Er wurde getötet, als eine russische Granate das Haus traf, und sein toter Körper lag zwei Tage lang in diesem Haus. Bruder und Schwester, neun und zehn Jahre alt, waren mit dem Toten allein. Nach zwei Tagen wurden sie vom Militär gefunden und evakuiert, aber es gab erst mal keinen Ort, an dem man diese beiden traumatisierten Kinder aufnehmen konnte. Sie kamen dann zu uns in den Westen, wo unsere Psychologen sich ihrer annahmen. Wir fanden eine gute Pflegefamilie, in deren Obhut es ihnen schon viel besser geht. Ein Happy End.

Kriegsverbrechen: „Es ist eine wirklich beängstigende Erfahrung“

Dass es nicht für jeden gibt. Wie geht es Ihnen, wenn Sie erleben, dass Kinder und Familien den Angreifern willkommene Ziele sind, um Schrecken und Angst zu verbreiten? Zum Beispiel, als das Theater von Mariupol bombardiert wurde, obwohl in riesigen Buchstaben auf die Vorplätze geschrieben wurde, dass Kinder dort untergebracht waren? Oder wenn berichtet wird, dass russische Soldaten Mütter vor ihren Kindern vergewaltigen oder töten? Wird man da nicht wütend?

(Pause) Ja, das ist so. Ich habe dann Wut und Angst in mir und bin verstört. Ich kann dann nicht glauben, dass so etwas geschieht, dass so etwas von Menschen getan wird, die die gleiche Sprache sprechen wie ich. Es ist eine wirklich beängstigende Erfahrung, aber dann isoliere ich diese Gefühle. Sie halten mich nicht davon ab, weiter zu tun, was ich kann, um den Kindern zu helfen. Ich versuche, so rational wie möglich zu sein. Ich folge unseren Grundsätzen der Neutralität, den Grundsätzen der humanitären Hilfe, und ich wende mich selbst an professionelle Hilfe. Ich besuche einen psychologischen Supervisor, und wir haben auch das Programm einer gegenseitigen Selbsthilfe innerhalb des Teams.

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Liegt die Bereitschaft zu solcher oft unvorstellbaren Gewalt in der Psyche des einzelnen russischen Soldaten begründet oder sind die Täter von der Propaganda des Kremls aufgepeitscht?

Es ist darin nichts Vereinzeltes zu erkennen, sondern erscheint als systematische Abfolge massivster und brutalster Verletzungen der Menschenrechte. Ich fürchte also, eingedenk vieler Aussagen von Kriegsopfern, es handelt sich um Politik, um einen vorsätzlichen Plan. Ich räume ein, dass diese Verbrechen von jeder Armee in jedem Krieg begangen werden könnten. Aber wenn die jeweilige Regierung gegen solche Menschenrechts­verletzungen vorgeht, bleiben die Fälle isoliert, kommen sie nur sporadisch vor. Ich bin sehr froh, dass wir Ähnliches auf unserer Seite nicht beobachten müssen. Wir haben eine Vielzahl von internationalen Organisationen in der Ukraine. Wir legen unsere Praktiken jedem Beobachter gegenüber offen. Wir sind offen, wir sind transparent, und wir befolgen das internationale Recht.

Werden diese grausamen Taten die Täter nicht eines Tages einholen?

Das könnte passieren. Wir wissen ja, dass es schon passiert ist. Es hängt alles davon ab, was die nächste Generation tun wird, um Leid und Schuld aufzuarbeiten, wenn der Krieg einmal vorbei ist. Nur wenn sich dort eine Politik durchsetzt, in der ein kollektives Bemühen im Fokus steht, können die Fehler und Verbrechen der Vergangenheit bewältigt werden.

„Wir sind Europäer, wir Ukrainer sind Europäer“

Woher kommen der unglaubliche Mut, der Gemeinschaftsgeist und die Unbeugsamkeit Ihrer Landsleute? Ist das der Mut der Verzweiflung, nur nicht von einem Land okkupiert zu werden, das offenkundig nicht einmal dem Leben seiner eigenen Bewohner eine Bedeutung beimisst und schon gar nicht dem Leben einer einzelnen Ukrainerin oder eines einzelnen Ukrainers?

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In gewisser Weise ja. Wir sehen den schrecklichen Terror und kämpfen mit dem Mut der Verzweiflung. Wir sind Europäer, wir Ukrainer sind Europäer! Wir wollen ein gutes Leben führen, wir wollen Freiheit, wir hoffen auf Menschenrechte, wir wollen den freien Markt, gute Sozialleistungen, wir wollen Würde und auch Wohlstand – und dafür kämpfen wir.

Wie erreicht all das auch die ukrainischen Kinder, die nach Russland entführt wurden?

Das ist ein Rätsel, dessen Lösung im Dunkeln liegt. Angeblich verhandelt der ukrainische Ombudsmann mit dem russischen Ombudsmann und sie versuchen, diese Kinder aufzuspüren. Soweit wir wissen, sind viele Kinder über das riesige Gebiet der Russischen Föderation verstreut – Papiere wurden ausgewechselt, sie adoptieren auch Kinder. Wir müssen dieses Rätsel lösen – für die nächste Generation.

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Wie sehen Sie insgesamt nach einem Jahr bei den SOS-Kinderdörfern die internationale Solidarität für die Ukraine?

Rein positiv. Wir haben viel Unterstützung, sowohl in finanzieller als auch in emotionaler Hinsicht. Alle unsere Partnerorganisationen nehmen unsere Flüchtlinge auf und bieten ihnen so viel Gutes wie möglich. Ich kann also nur meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Wir kämpfen aber auch für Europa, nicht nur für uns selbst. Und wir wissen auch, dass Europa das so versteht.

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„Wir bereiten uns auf die Phase des Wideraufbaus vor“

Und wie geht es bei den SOS-Kinderdörfern in der Ukraine im Jahr 2023 weiter?

Wir expandieren. Letztes Jahr haben wir uns versiebenfacht, im Jahr 2023 werden wir zweieinhalb- oder vielleicht dreimal so stark expandieren. Und wir werden weiterhin unsere Nothilfemaßnahmen durchführen, denn die Notlage ist nach wie vor vorhanden. Aber wir bereiten uns auch auf die Phase der Wiederherstellung und des Wiederaufbaus vor. Wir setzen uns für die europäischen Grundsätze der sozialen Dienste und der Kinderbetreuung ein. So planen wir bereits die Nachkriegszeit.

Wie geht es eigentlich heute den Kindern, die als erste evakuiert wurden und in den SOS-Kinderdörfern anderer Länder Obhut fanden?

Wir sind in wöchentlichem Kontakt. Natürlich wollen sie nach Hause zurückkehren. Sie fragen uns jede Woche, wann sie endlich kommen können. Aber es ist noch nicht an der Zeit, es ist immer noch gefährlich. Und sie werden dort, wo sie sind, von den örtlichen SOS-Kinderdörfern, von Sozialdiensten oder einheimischen Studenten unterstützt. Sie gehen zur Schule, sie lernen Sprachen. Sie lernen auch neue Freunde in den Aufnahmeländern kennen. Man kann nur sagen: Es geht ihnen gut.

„Eine Tragödie, mit der wir eine Generation lang zu tun haben werden“ – Serhii Lukashov, der Leiter von SOS-Kinderdorf Ukraine.

„Eine Tragödie, mit der wir eine Generation lang zu tun haben werden“ – Serhii Lukashov, der Leiter von SOS-Kinderdorf Ukraine.

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Serhii Lukashov (50) ist seit Mitte Mai 2019 nationaler Direktor für die SOS-Kinderdörfer in der Ukraine. Er erwarb Abschlüsse in Psychologie und Sozialarbeit an zwei Universitäten in Kiew und absolvierte zusätzliche Ausbildungskurse in Sozialarbeit an europäischen Universitäten. Seit den 1990er-Jahren arbeitet er im Bereich der psychosozialen Dienste für Kinder und Familien – in Gemeinden, Nichtregierungsorganisationen und internationalen Organisationen. In den frühen 2000er-Jahren war er an den ersten Schritten zur Einrichtung von Familien­unterstützungs­diensten und Pflegefamilien­netzwerken in der Ukraine beteiligt, die später eine Schlüsselrolle bei der schrittweisen Deinstitutionalisierung der Kinderbetreuung im Land spielten.

Später war Serhii Lukashov in demselben Arbeitsbereich international tätig – in Kirgistan, Tadschikistan, Russland (St. Petersburg) und im Kosovo – als Berater, Praxisausbilder und Ausbilder für staatliche und nicht staatliche Dienstleister und Entscheidungsträger. Seine Fachgebiete sind das Management von Sozialdienstleistungen für Familien, die praktische Ausbildung von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern sowie die Entwicklung und Anpassung von Regelwerken und methodischen Dokumenten. In den Jahren vor dem Angriffskrieg 2022 hat er an Projekten zum Wiederaufbau des Sozialsystems in den östlichen Regionen der Ukraine mitgewirkt.

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