Immer mehr junge Tatverdächtige

Straffällige Jugendliche: „Durch Gefängnisse wird niemand besser“

Ein junger Häftling steht in seiner Zelle in der Jugendanstalt Hameln. 387 Jugendliche und junge Männer sind derzeit in Hameln inhaftiert, dem größten Jugendgefängnis in Deutschland.

Ein junger Häftling steht in seiner Zelle in der Jugendanstalt Hameln. 387 Jugendliche und junge Männer sind derzeit in Hameln inhaftiert, dem größten Jugendgefängnis in Deutschland.

Der Kriminologe und Jurist Thomas Feltes spricht nicht das erste Mal über Jugendkriminalität. Das Thema begleitet ihn seit vielen Jahren. 2014 schrieb er einen Beitrag darüber, indem er andere Wege als das Gefängnis aufzeigt. Im Interview erklärt er, wieso junge Menschen Straftaten begehen, wie ihnen geholfen werden kann und wieso auch die Täter Opfer sind.

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2022 ist die Zahl von minderjährigen Tatverdächtigen gestiegen, in Deutschlands größtem Jugendgefängnis in Hameln mussten zuletzt die Plätze für die U-Haft aufgestockt werden. Woran liegt das?

Die Jugendkriminalität ist nicht angestiegen, es hat sich nur in eine andere Richtung entwickelt. Wenn man die längerfristigen Entwicklungen sieht, haben wir bei Weitem nicht den Stand erreicht, den wir vor etwa zehn Jahren hatten. Es ist ein temporärer Anstieg, der mit Sicherheit coronabedingt ist.

Kann es auch daran liegen, dass Daten beispielsweise neu oder anders erfasst worden sind?

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Das kann immer der Fall sein. Das Problem ist, dass das nicht nachvollziehbar ist, weil die Polizei nicht dokumentiert, ob sie unter Umständen andere Schwerpunkte setzt. Es kann durchaus auch sein, dass genau durch den Fokus auf Internetkriminalität Jugendliche in den Fokus gelangt sind. Generell ist die polizeiliche Kriminalitätsstatistik, PKS, das ungeeignetste Mittel, um überhaupt Aussagen zur Entwicklung von Kriminalität und besonders Jugendkriminalität zu machen.

Wieso?

Zum einen werden etwa drei Viertel aller Ermittlungsverfahren von der Polizei, von Staatsanwaltschaft und Gerichten eingestellt. Das heißt, nur ein Viertel der dort registrierten Tatverdächtigen wird tatsächlich verurteilt. Die Einstellungen erfolgen aus ganz verschiedenen Gründen, zum Teil wegen nicht vorhandener Beweise, von mangelnder Schuld, wegen Geringfügigkeit. Wenn man täterbezogene Aussagen, also nicht über die Straftaten der Täter, sondern über die Täter selbst, treffen will, muss man die Verurteiltenstatistik nehmen.

Das andere ist, dass wir gerade im Bereich der Jugendkriminalität ein exorbitant hohes Dunkelfeld haben. Da können Änderungen in der öffentlichen Wahrnehmung und daraus folgende Anzeigen bei der Polizei bei der Erfassung eine Rolle spielen. Die PKS ist extrem verfälscht: Etwa 20 Prozent der Daten sind nachweislich falsch, weil sie falsch eingetragen werden. Das führt zu noch einem Problem, denn sie ist nach wie vor das einzige Instrument, mit dem die Politik agieren kann.

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Welche Taten werden eher von Jugendlichen begangen?

Bei Jugendlichen sind es in der Regel leichte Körperverletzungsdelikte, also Prügeleien und Raufereien. Das sind Beleidigungsdelikte, die früher überhaupt keine Rolle gespielt haben, weil es niemanden interessiert hat. Sie werden zunehmend zur Anzeige gebracht, weil sie viel auf Social Media stattfinden. Letztendlich reden wir bei Jugendkriminalität bei 90 Prozent der Straftaten über eher leichtere Straftaten und bei 90 Prozent der Täter über episodenhaften Charakter, das heißt, sie fallen gleich mit mehreren Taten auf.

Wofür ist das ein Symptom, wenn Jugendliche straffällig werden?

Durch Corona gab es ganz offensichtliche Auslöser, wenn Sie an die Bilder von Stuttgart denken, wo eben Jugendliche dann auf Polizeibeamte losgegangen sind, dem Berliner Neujahrsfest oder Silvesterfeiern, wo sich eben dieser ganze Frust im Grunde dieser unterdrückten Jahre widergespiegelt hat. Wenn man davon erst mal absieht, sind es primär Straftaten von Jugendlichen aus sozial benachteiligten Schichten. Das ist ganz klar der Vorhersagefaktor für Jugendkriminalität: Die soziale Lage und die Benachteiligung im Bereich von Bildung, der Familie, von Fürsorge generell. Das alles geht einher mit gesundheitlichen Problemen, dass sie höhere Übergewichtsraten haben. Sie haben schlechtere Bildungschancen, damit schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Sie haben zerbrochene Familien. Es führt dazu, dass diese Kinder und Jugendlichen mehr oder weniger sich selbst überlassen sind.

Müssten einfach alle „aufsteigen“, damit es besser wird? Oder ist es auch ein gesellschaftliches Anpacken, das über Bildung hinausgeht?

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Bildung ist schon der Schlüssel. Und natürlich die Unterstützung sozial benachteiligter Familien, die oftmals am Existenzminimum leben. Wer das Gefühl hat, in einer Gesellschaft zu kurz zu kommen, der meint eben, keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen. Das gilt sowohl für Menschen mit Migrationshintergrund als auch für „biodeutsche“ Jugendliche. Angemessene Bildungschancen müssen mit sozialer Besserstellung einhergehen. Gerade Kinder und Jugendliche können ja nichts dafür, sie werden hineingeboren in eine oftmals schon Generationen andauernde soziale Benachteiligung. Und für sie ist es extrem schwer, da rauszukommen, weil sie eben keine Unterstützung in der Familie haben. Wir haben durch Ganztagskindergärten oder Kitas wichtige Schritte gemacht. Der nächste Schritt wären Ganztagsschulen mit Mittagessen, beispielsweise mit Frühstück. Wir wissen, dass gerade im Bereich der sozial benachteiligten Kinder und Jugendlichen fast alle mit leerem Magen in die Schule kommen.

Ist es nicht auch wechselseitig so: Wer von der Gesellschaft ausgegrenzt wird, grenzt sich auch von ihr ab?

Mit der Gesellschaft, die Sie jetzt ansprechen, sind diese Kinder und Jugendlichen praktisch nicht konfrontiert. Sie leben in ihrer eigenen Blase. Da sind gerade im Bereich der sozial benachteiligten Kinder und Jugendlichen sehr engagierte Lehrer und Sozialarbeiterinnen zugange. Es geht eher um die Problemvermittlung. Dass die Medien ein Bild von der Teilhabe an der Gesellschaft präsentieren, das man im Grunde genommen nicht erreichen kann, wenn man sozial benachteiligt lebt.

Sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche legen besonders Wert darauf, gut angezogen zu sein und Markenklamotten zu tragen, denn es ist ein Ausdruck dafür, an der Gesellschaft teilzuhaben. Und wenn diese Möglichkeiten nicht bestehen, dann muss man sie sich entweder durch Straftaten, sprich Diebstähle, Einbrüche, die Mittel verschaffen oder man muss sein Ansehen durch andere Art und Weise herstellen. Da sind wir wieder bei Körperverletzungs- und Gewaltdelikten.

Rekordanstieg bei politisch motivierter Kriminalität im Jahr 2022
ARCHIV - 17.05.2015, Thüringen, Preetz: Eine zerschlagene Glastür und ein verwüsteter Gang zeigen das Ausmaß von Vandalismus in einer Schule. Die Zahl der Straftaten an Schulen in Nordrhein-Westfalen ist in den vergangenen Jahren gestiegen. (zu dpa: «Polizei registriert mehr Straftaten an NRW-Schulen») Foto: Daniel Friederichs/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Nach Angaben der Bundesinnenministerin haben die Polizeibehörden von Bund und Ländern im vergangenen Jahr fast 59.000 politisch motivierte Straftaten erfasst.

In den vergangenen Wochen gab es ja leider ein paar tragische Vorfälle, indem Jugendliche andere Jugendliche getötet haben. Es wurden härtere und frühere Haftstrafen gefordert. Hilft das Gefängnis wirklich?

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Es ist eine der Grunderkenntnisse der Kriminologie, dass härtere Strafen keine besseren Erfolge bringen. Gerade im Bereich der Jugendkriminalität ist das Gefängnis, das dysfunktionalste und schlechteste Mittel überhaupt. Durch Gefängnisse wird niemand besser. Es gibt hohe Rückfallquoten. Das ist nur eine Lösung, wenn wir über Straftäter reden, die durch eine hohe Anzahl von schwereren Gewalttaten nicht mehr erreichbar und abgedriftet sind.

Bei den Fällen der vergangenen Wochen waren es aus meiner Sicht Taten, die aus Beziehungen heraus entstanden sind und die von Kindern und Jugendlichen begangen worden sind, die bisher mehr oder weniger unauffällig waren. Da würde eine Gefängnisstrafe und selbst auch eine geschlossene Unterbringung nur dazu führen, dass sich die Dinge verschlechtern und diese Kinder und Jugendlichen auf ein vollkommen falsches Gleis gesetzt werden. Es gibt immer zwei Opfer, es gibt das getötete Opfer und es gibt denjenigen, der den Tod verursacht hat. Sie werden dieses Trauma ein Leben lang nicht los. Und wenn wir wollen, dass sie irgendwann in unserer Gesellschaft normal funktionieren, dann muss man eben jetzt Hilfe anbieten und nicht erst in vier, fünf Jahren.

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