US-Geheimdienste wussten es besser

Krieg in der Ukraine: deutscher Nachrichtendienst im Blindflug

Russische Soldaten im Donbas am 26. Februar 2022 – zwei Tage nach Beginn der Invasion.

Russische Soldaten im Donbas am 26. Februar 2022 – zwei Tage nach Beginn der Invasion.

Rom, Ende Oktober 2021: Die Führer der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer treffen sich turnusgemäß in Rom, nur Russlands Präsident Wladimir Putin und Chinas Präsident Xi Jinping werden per Video zugeschaltet.

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Am Rande der großen Konferenz bittet US-Präsident Joe Biden die Führer der wichtigsten Verbündeten – den britischen Premier Boris Johnson, den französischen Präsidenten Emmanuel Macron sowie die deutsche Delegation, bestehend aus Nochkanzlerin Angela Merkel und ihrem Nachfolger Olaf Scholz – zu einer internen Runde. Biden teilte der Runde einige Erkenntnisse seiner Geheimdienste mit, einen bevorstehenden Überfall Russlands auf die Ukraine betreffend, wie die „Washington Post“ in einem jetzt veröffentlichten Dossier berichtet. Es war das erste Mal, dass Washington sehr konkret wurde.

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Wenige Tage später, Mitte November, tauchte die US-Geheimdienstkoordinatorin Avril Haines beim Nordatlantikrat, dem wichtigsten Entscheidungsgremium der Nato, auf. Vor einem großen Podium informierte sie sehr konkret über die Erkenntnisse, die Geheimdiensten vorlagen – und verzichtete auf politische Empfehlungen. Denn schon Biden hatte in Rom feststellen müssen, dass es auf europäischer Seite Russlands Aufmarsch betreffend viel Skepsis gab – vor allem aus Deutschland und Frankreich.

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Avril Haines, US-Geheimdienstkoordinatorin.

Avril Haines, US-Geheimdienstkoordinatorin.

Paris und Berlin erinnerten an falsche Behauptungen vor dem Irak-Krieg

„Einige Mitglieder standen der Idee skeptisch gegenüber, dass Präsident Putin sich ernsthaft auf die Möglichkeit einer groß angelegten Invasion vorbereitete“, erinnerte sich Haines in der „Washington Post“. Französische und deutsche Beamtinnen und Beamte wollten oder konnten nicht verstehen, warum Putin versuchen sollte, in ein so großes Land wie die Ukraine einzudringen, um es zu besetzen. Mit den 80.000 bis 90.000 Soldatinnen und Soldaten, die sich bereits zu diesem Zeitpunkt an der Grenze massierten, sei das nicht denkbar, so die Argumentation.

Die Skeptiker aus Berlin und Paris beriefen sich ihrerseits auf den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der bis zuletzt eine Invasion für wenig wahrscheinlich hielt. Lediglich die Briten und die Balten ließen sich überzeugen. „Sie hat recht“, sagte ein britischer Beamter und zeigte auf Haines.

Paris und Berlin erinnerten zu diesem Zeitpunkt an die falschen Behauptungen früherer US-Regierungen vor Beginn des Irak-Krieges, die auch auf angeblichen Geheimdienstinformationen basierten. Hatte Washington zudem nicht erst die Widerstandsfähigkeit der afghanischen Regierung falsch eingeschätzt und dort sein Militär überhastet abgezogen, wurde argumentiert.

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„Amerikanische Geheimdienste gelten nicht von Natur aus als zuverlässige Quelle“, zitiert die „Washington Post“ den französischen Sicherheitsexperte und langjährigen Regierungsberater François Heisbourg. „Sie gelten als anfällig für politische Manipulationen.“ Mit Blick auf Russlands Absichten in der Ukraine gab es in der Nato „im Grunde drei Geschmacksrichtungen“, wie das ein hochrangiger Verwaltungsbeamter ausdrückt: Die Westeuropäer und maßgeblich Deutschland hielten Putins Aufmarsch für eine Form der „erzwingenden Diplomatie“, was bedeutet, er baut eine Drohkulisse auf, um so politische Zugeständnisse zu erpressen, er marschiert aber nicht ein.

Viele Ost- und südosteuropäische Staaten glaubten an eine begrenzte militärische Aktion ähnlich jener von 2014. Nur Briten und Balten glaubten an einen Angriffskrieg, der dann auch später erfolgen sollte.

Etwa 75.000 Russen in Ukraine-Krieg getötet oder verletzt

Im Krieg gegen die Ukraine gehen die Opferzahlen auf russischer Seite nach US-Schätzungen in die Zehntausende.

Deutschland verließ sich auf den Bundesnachrichtendienst

Als skeptische Mitgliedsstaaten die Amerikaner um mehr Geheimdienstinformationen baten, wurden sie bereitgestellt. Eine historische Zäsur: Selten zuvor hatte Washington solch sensible Informationen an eine so uneinheitliche Organisation wie die Nato weitergegeben, in der auch unsichere Kantonisten wie die Türkei Mitglied sind. Allerdings teilten sie besonders sensible Nachrichten, wie zum Beispiel menschliche Quellen, nur mit den Briten. In Berlin und Paris führte das zu der irrigen Annahme, man halte diese Informationen nur zurück, weil sie die US-These einer hohen Wahrscheinlichkeit des Krieges konterkarierten.

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Berlin verwies auf eigene Quellen, vor allem auf den Bundesnachrichtendienst. Noch am 28. Januar 2022, also weniger als einen Monat vor Kriegsbeginn, äußerte Bruno Kahl, der Präsident des Bundesnachrichtendienstes gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters: „Ich glaube, dass die Entscheidung über einen Angriff noch nicht gefallen ist.“

Anschließend zählte er mögliche Eskalationsstrategien des russischen Präsidenten auf – von „hybriden Maßnahmen“ über die „Unterstützung der Separatisten im Osten“ der Ukraine, „um dort die Demarkationslinie ein bisschen nach vorne zu schieben“, bis hin zum inszenierten Regimechange in Kiew. Die Möglichkeit eines Krieges nannte er nicht. Kahl glaubte, Putin ginge es um Anerkennung, „er will gefragt bleiben. Das ist, glaube ich, ein Hauptmotiv“, so der BND-Chef damals. Eroberung als Ziel nannte er nicht.

Ich glaube nicht, dass der BND so arglos war.

Martin Wagener, Professor für Internationale Politik am Fachbereich Nachrichtendienste der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung

„Ich glaube nicht, dass der BND so arglos war“, ist Martin Wagener überzeugt, Professor für Politikwissenschaft am Fachbereich Nachrichtendienste der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Berlin, gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Es gibt da eine nachrichtendienstliche Tradition im Bereich der Russland-Auswertung, die auch das Ende des Kalten Krieges überlebt hat. Der BND war vermutlich sogar sehr gut informiert. Die entscheidende Frage ist eine andere: Dringt der Auslandsnachrichtendienst mit Informationen durch, die vielleicht nicht ins Bild von Vertretern der Regierung passen?“, so Wagener. Viele Politikerinnen und Politiker würden über naive Vorstellungen zur Außen- und Sicherheitspolitik verfügen. „Sie brauchen als Nachrichtendienst auch immer Entscheidungsträger, die sich auf ihre Denke einlassen“, behauptet der Sicherheitsexperte.

US-Nachrichtendienste hatten 2021 ein Budget von 84,1 Milliarden Dollar

Zudem müsse man sich laut Wagener die unterschiedlichen Möglichkeiten von deutschen und US-Geheimdiensten vor Augen halten: „84,1 Milliarden Dollar waren 2021 im US-Haushalt für Nachrichtendienste abgestellt, das Budget für den BND lag bei nur 940 Millionen Euro.“

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Bruno Kahl, Präsident des Bundesnachrichtendienstes.

Bruno Kahl, Präsident des Bundesnachrichtendienstes.

Das schlechte Abschneiden deutscher Nachrichtendienste bekam an jenem 24. Februar 2022, als russische Truppen von mehreren Seiten in der Ukraine einmarschierten, auch eine persönliche Note: BND-Chef Kahl hielt sich an jenem Tag in Kiew zu Konsultationen auf.

Der Krieg, den US-Nachrichtendienste seit Monaten voraussagten und den er bis zuletzt für wenig wahrscheinlich hielt, er überrollte ihn – beinahe. Umgehend beorderte er den Dienstjet, mit dem er angereist war, nach Deutschland zurück. Nach der Sperrung des Luftraums reiste er auf dem Landweg mit einer bewaffneten Eskorte der Ukrainer zurück.

Die neue Bundesregierung, die der von Kahl geleitete Auslandsnachrichtendienst mit „Informationen von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung“ versorgen sollte, wurde vom Krieg im Osten Europas überrascht und wird bis heute innerhalb der Anti-Putin-Koalition für ihre eher zögerliche Haltung kritisiert.

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