Ukrainer in Deutschland voller Angst und Wut: „Wir sind alle in Gefahr“
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Ein Mann hält auf der Demo für die Ukraine vor dem Brandenburger Tor ein Schild hoch, auf dem steht „Militärische Hilfe für die Ukraine“.
© Quelle: Maria Lentz
Berlin. „Der ganze Himmel steht in Flammen“, berichtet Nelya Feditschenko. Ein Anblick, den die meisten Menschen in Europa noch nie erleben mussten. Für Feditschenko ist er seit diesem Donnerstagmorgen Realität. „Wir sind in Kiew. Ich bin um 5.40 Uhr von den Schüssen aufgewacht. Russland hat begonnen, Flughäfen zu beschießen. Wir haben Angst, wir können nirgendwo hinlaufen“, schreibt die junge Frau dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) via Facebook.
Szenen, die viele Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland von ihren Familien und Freunden ebenso geschildert bekommen. „Ich bin heute morgen um 6 Uhr aufgewacht und habe sofort meine Familie in Kiew angerufen, weil ich ein ungutes Gefühl hatte“, erzählt Olena Shutovska.
Sie und ihr Mann leben in Berlin, sind an diesem Vormittag zum Brandenburger Tor gekommen, um gemeinsam mit Hunderten anderen für die Unterstützung der Ukraine zu demonstrieren. „Wir mussten irgendetwas tun. Wir fühlen uns machtlos, können nicht helfen“, sagt die 29-Jährige.
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Olena Shutovska und ihr Mann sind zur Demonstration vor dem Brandenburger Tor gekommen, da sie sich sonst machtlos fühlen. Ihre gesamte Familie lebt noch in der Ukraine. Auf ihrem mitgebrachten Schild steht: „Die Ukraine wird standhalten und Europa auch.“
© Quelle: Maria Lentz
„Sie wollen bleiben und für ihr Land kämpfen“
Stundenlang habe sie mit ihrer Familie gesprochen, sagt Shutovska. Es gehe ihnen gut. „Überall sind lange Schlangen vor den Geschäften, aber ansonsten versuchen die Menschen, ruhig zu bleiben, nicht in Panik auszubrechen“, berichtet Shutovska. Es sei im Moment sicherer, nicht zu fliehen, da keiner wisse, wo als nächstes Bomben niedergehen.
Auch Alina Skalkina und ihr Freund Maxsym haben ihre Familien in der Ukraine. „Sie wollen bleiben und für ihr Land kämpfen“, erzählt Skalkina. „Aber wir brauchen Hilfe aus Europa.“ Ihre Hände zittern. „Ich habe Angst – und bin wütend“, sagt sie. Wie großflächig das Land angegriffen werde, sei unfassbar. Maxsyms Eltern seien von Einschlägen aufgewacht. „Sie wohnen in den Bergen nahe Polen, weit weg von der russischen Grenze.“
Forderung: Russen müssen aufstehen und ihren Widerstand zeigen
Entsetzen, Angst und Wut sind die vorherrschenden Emotionen unter den Demonstranten. „Ihr seid alle in Gefahr. Ihr steht hier nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Europa“, schallt durch ein Megafon. Drei junge Ukrainerinnen, die die Versammlung mit organisiert haben, verkünden ihre Statements nacheinander auf Ukrainisch, Englisch und Deutsch. Auch die ehemalige Grünen-Abgeordnete Marieluise Beck ergreift das Wort: „Es müssten hier auch mehr Deutsche stehen. Aber vielleicht kommt das noch, wenn sie anfangen zu verstehen.“
Da ist jedenfalls auch eine Frau mit russischem Pass, Lyu Azbel. Sie hat ihn auf ein Schild geklebt, auf dem sinngemäß steht: „Diese russische Staatsangehörige sagt, Putin ist ein Arschloch.“ „Die Russen dieser Welt müssen rauskommen und zeigen, dass sie nicht hinter dem Diktator stehen. Das ist Putins größte Angst“, meint Azbel. Der Angriff auf die Ukraine fühle sich an wie ein persönlicher Angriff auf sie und ihre Familie. „Wir sind doch alle miteinander verbunden.“
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Lyu Azbel besitzt die russische Staatsangehörigkeit und ist ebenfalls zur Demonstration gegen den Krieg in der Ukraine gekommen. Sie hat ihren russischen Pass auf ein Schild geklebt, auf dem zusätzlich steht: „Diese russische Staatsbürgerin sagt, Putin ist ein Arschloch.“
© Quelle: Maria Lentz
Wut über Ignoranz Europas: „Putin hat es angekündigt“
Wie im falschen Film, aus dem man nicht entfliehen kann, fühlt sich auch Marina Bondas. Die Musikerin, die seit 30 Jahren in Berlin lebt, hat den Krieg in der Ukraine schon hautnah erlebt. „Ich leite seit acht Jahren ein Rehabilitationsprojekt für Kriegskinder in der Ostukraine“, erzählt sie.
Die letzte Nacht habe sie nicht geschlafen, habe permanent mit Leuten vor Ort geschrieben. „Sie haben geahnt, dass es so kommt, haben sich psychisch darauf vorbereitet, und die meisten wollen auch bleiben. Es ist ihre Heimat.“ Nun werden sie lokal in Sicherheit gebracht, so weit es geht.
Was Bondas verzweifeln lässt und wütend macht, ist, dass Europa nicht längst gehandelt hat. „Es war klar, was Putin machen würde. Er hat es angekündigt“, sagt sie. Natürlich müsse man es erst mit Diplomatie versuchen, aber Putin verstehe diese Sprache nicht. „Er schürt seit Jahren den Hass gegen Europa. Die Propaganda funktioniert. Eine ganze Generation ist mit einer völlig verschobenen Realität aufgewachsen“, sagt sie und fügt hinzu: „Ohne zu übertreiben, kann man das mit dem Dritten Reich vergleichen.“
Warnung: Krieg wird auch online geführt
Und Bondas spricht noch etwas aus, an das viele wohl denken: „Die Frage ist, ob die russischen Panzer an der polnischen Grenze stoppen werden. Ich glaube nicht. Die Zerstörungsenergie ist zu groß.“ Gleichzeitig warnt sie davor, alle Informationen zu glauben: „Das Netz ist voller Falschmeldungen über bereits eingenommene Städte und Bombardements. Das soll Panik schüren.“
Auch auf der Demo heißt es: „Wir befinden uns in einem hybriden Krieg – militärisch und online.“ Wenn es darum geht, was Leute vor Ort brauchen, solle man nur engen Vertrauten glauben. Bondas weiß, dass nun vor allem medizinische und psychologische Hilfe vonnöten ist.
Organisation von Transporten auf Facebook
Auf Facebook vernetzen sich indes in Deutschland lebende Ukrainerinnen und Ukrainer, um zu helfen. In der Gruppe „Ukrainer in Berlin“ wird seit dem Morgen immer wieder nach Transportmöglichkeiten gefragt, ob Leute in die Ukraine fahren, ob man Familien herausbringen kann. Unter zahlreichen Beiträgen werden mazedonische, serbische, slowenische und polnische Handynummern gepostet, versehen mit Informationen, wie „kann morgen abgeholt werden“ oder „Igor heute Abend oder morgen“.
Auch die zweifache Mutter Nelya Feditschenko aus Kiew möchte nach Deutschland. „Natürlich würden wir fliehen, aber ich kenne keine Hilfe“, schreibt sie dem RND. Und sie hat noch eine große Angst: „Deutschland akzeptiert uns sicher nicht als Flüchtlinge.“