Der Verfassungsschutz steht vor einer Reform
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Das Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln.
© Quelle: Oliver Berg/dpa
Berlin. Der Thüringer Verfassungsschutzpräsident Stephan Kramer rechnet mit ersten Gesetzesvorschlägen für eine Verfassungsschutzreform im Bund und mehreren Ländern innerhalb der nächsten Monate. Das sagte Kramer im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Die Notwendigkeit umfassender Reformen ergibt sich aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. April. Die Karlsruher Richter hatten damit mehrere Bestandteile des bayerischen Verfassungsschutzgesetzes für verfassungswidrig erklärt. Sie verordneten dem Nachrichtendienst unter anderem strengere externe Kontrollen und striktere Vorgaben zur Informationsweitergabe an Polizei und Staatsanwaltschaft.
Aufregung im Verfassungsschutzverbund
„Das Karlsruher Urteil hat wegen seines grundsätzlichen Regelungscharakters im Verfassungsschutzverbund für Aufregung gesorgt“, sagte Stephan Kramer. „Wir haben uns alle hingesetzt und überlegt, wie wir damit umgehen. Das bayerische Verfassungsschutzgesetz ist zwar sehr speziell im Vergleich zu den anderen“, erklärte er. Dennoch sei die grundsätzliche Haltung des höchsten Gerichts „natürlich der Maßstab für alle Verfassungsschutzgesetze“ und löse verschiedenste Nachjustierungen aus.
Das Verfassungsgerichtsurteil erging, weil die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) gegen das besonders weitreichende bayerische Landesgesetz und die darin enthaltenen Befugnisse für das Landesamt für Verfassungsschutz geklagt hatte. Die Bürgerrechtsorganisation zeigte sich mit dem Urteil zufrieden. „Dieses Urteil strahlt in die ganze Republik aus. Denn viele andere Verfassungsschutzbehörden in den Ländern und im Bund haben ähnliche Befugnisse. Sie müssen nun ihre Gesetze kritisch prüfen und überarbeiten“, sagte Bijan Moini, Leiter des Legal Teams der GFF, laut einer Pressemitteilung in Reaktion auf die Karlsruher Entscheidung.
Ein Gutachten zeigt den Reformbedarf im Bund
Diese Einschätzung stützt auch ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags. Es kommt zu dem Schluss, dass mehrere Aspekte des Karlsruher Urteils auch auf das Bundesverfassungsschutzgesetz und die Gesetze für den Bundesnachrichtendienst und den Militärischen Abschirmdienst anwendbar sind. Die „Süddeutsche Zeitung“ hatte zuerst über die bundesweiten Verfassungsschutzreformpläne und das Gutachten berichtet, das der parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion im Bundestag, Stephan Thomae, in Auftrag gegeben hat.
„Um die Leistungsfähigkeit unserer Nachrichtendienste sicherzustellen, braucht es klare Regeln und parlamentarische Kontrolle“, sagte Thomae dem RND. „Der Sachstand des Wissenschaftlichen Dienstes zeigt, dass es nicht nur beim Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz, sondern auch bei den Nachrichtendiensten des Bundes derzeit zu wenig Kontrolle gibt, etwa beim Lauschangriff in privaten Wohnungen oder der Handyortung.“ Hier bestehe dringender Handlungsbedarf.
Insbesondere die vom Bundesverfassungsgericht geforderte unabhängige Vorabkontrolle nachrichtendienstlicher Eingriffe sei ein echter Meilenstein für die künftige Sicherheitsgesetzgebung. Die unabhängige Vorabkontrolle schaffe Rechtsklarheit und stärke das Vertrauen in die Nachrichtendienste, sagte Thomae.
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Kramer sieht schwere Herausforderungen für den Verfassungsschutz
Stephan Kramer sieht die Arbeit der Verfassungsschutzämter durch das Urteil hingegen vor schwere Herausforderungen gestellt. Das Bundesverfassungsgericht wende aus seiner Sicht Maßstäbe aus dem Polizeirecht, etwa dem BKA-Gesetz, auf den Verfassungsschutz an. „Dabei übersieht das Gericht meiner Ansicht nach aber, dass der Verfassungsschutz eben gerade keine Polizei mit entsprechenden Exekutivbefugnissen ist und wir auch keine sein wollen, denn wir haben unterschiedliche Aufgaben“, sagte Kramer.
Kramer kann auch keinen Mangel an Kontrolle erkennen: Bereits jetzt gebe es mehrere Kontrollinstanzen für die Verfassungsschutzämter, in Thüringen seien als Konsequenz aus der NSU-Aufarbeitung neue Instanzen eingeführt worden, die sich bewährt hätten. „Das Innenministerium – Minister und Staatssekretär – wachen im Rahmen der Dienst- und Fachaufsicht über das Amt und sind in einzelne Entscheidungen zwingend einzubeziehen. Die parlamentarische Kontrollkommission lässt sich monatlich umfassend über die Arbeit informieren und wir haben gesetzliche Berichtspflichten, die in jeder Sitzung zu erfüllen sind und von der Geschäftsstelle der Kommission akribisch geprüft werden“, sagte Kramer.
Dazu komme noch die G10-Kommission des Landtags, die etwa Telekommunikationsüberwachungen prüft und genehmigt. In Thüringen gebe es zudem noch eine Controlling-Stelle innerhalb der Behörde, die vom eigentlichen nachrichtendienstlichen Geschäft abgetrennt sei und alle eingesetzten Mittel auf Recht- und Zweckmäßigkeit überprüfe.
Angst vor lähmender Kontrolle
„Ich wüsste nicht, was eine zusätzliche Kontrolle noch an Mehrwert bringen sollte, außer mehr Bürokratie und vor allem in Gesetz geschriebenes ‚generelles Misstrauen‘ gegen die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“, sagte Kramer. „Wenn die Entwicklung der Rechtsprechung und so manches politisches Projekt im Bereich Verfassungsschutz so weitergehen, dann haben wir bald mehr Kontrolleure als eigentliche Beschaffer und Auswerter, die Informationen über Bestrebungen gegen die Freiheitlich Demokratische Grundordnung aufklären.“
Er sei nicht „gegen eine sinnvolle weitere Kontrolle“, sagte Kramer. „Sie muss aber so ausgestaltet sein, dass sie die Rechtmäßigkeit unserer Maßnahmen prüft und gleichzeitig unsere Arbeit nicht unnötig verzögert oder gar behindert.“ Zeit sei bei der Arbeit des Verfassungsschutzes ein wichtiger Faktor, etwa wenn es um Terrorismus gehe. „Wenn wir uns erst an eine externe Kommission wenden müssen, um operative nachrichtendienstliche Maßnahmen durchführen zu können, dann kann das wertvolle Zeit kosten“, mahnte der Behördenchef. So eine Kommission müsse dann auch an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr entscheidungsfähig sein.
Austausch zwischen Verfassungsschutz und Polizei auf dem Prüfstand
Kritik äußerte Kramer auch an Einschränkungen der Datenweitergaben der Verfassungsschutzbehörden an die Polizei, die das Karlsruher Urteil verlangt. Im Zuge der NSU-Aufarbeitung sei lange darüber diskutiert worden, dass ein umfassender Austausch zwischen Verfassungsschutz und Polizei wichtig sei, „um einen nahtlosen Übergang von der Frühwarnung zur Gefahrenabwehr sicherzustellen“, sagte Kramer. Die Zusammenarbeit werde durch das aktuelle Verfassungsgerichtsurteil nun wieder relativiert und seiner Ansicht nach teilweise zurückgedreht. Der Verfassungsschutz dürfe seine gewonnenen Erkenntnisse demnach nur im Fall einer konkreten Gefahr weitergeben – „bildlich gesprochen, wenn der Schadenseintritt bei schweren Straftaten unmittelbar bevorsteht“.
Dann sei es aber in der Realität oft schon zu spät. „Das könnte zur Folge haben, dass wir künftig nach einem Anschlag nur sagen können: Uns wurde leider rechtlich nicht gestattet, unsere Informationen weiterzugeben, um die Tat möglicherweise zu verhindern“, sagte Kramer.
Erste Gesetzesvorschläge schon bald
Bis zur Umsetzung der vom Bundesverfassungsgericht zunächst in Bayern verlangten Reformen dürfte es nicht allzu lange dauern. „Ich gehe davon aus, dass in den nächsten zwei bis vier Monaten in verschiedenen Ländern und im Bund erste Gesetzentwürfe präsentiert werden“, sagte Kramer. Es herrsche im Verfassungsschutzverbund Einigkeit darüber, dass die Verfassungsschutzgesetze von Bund und Ländern möglichst einheitlich gestaltet sein sollten.
Uneinigkeit bestehe noch darüber, welche externe Kontrollinstanz installiert werden sollte. „Manche Bundesländer tendieren eher dazu, einen unabhängigen Kontrollrat einzurichten“, sagte Kramer. „Andere wollen sich zur Genehmigung nachrichtendienstlicher Maßnahmen lieber an einen Ermittlungsrichter des örtlichen Amtsgerichts wenden, der ohnehin rund um die Uhr erreichbar ist.“ Das Bundesverfassungsgericht habe dem Gesetzgeber in dieser Frage Handlungsspielräume offengelassen. „Wichtig ist, dass wir eine Regelung bekommen, die funktioniert“, betonte der Thüringer Verfassungsschutzpräsident.
Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums sagte dem RND, das Karlsruher Urteil habe keine direkten Auswirkungen auf das Bundesrecht. „Die Bundesregierung wertet jedoch die tragenden Erwägungen des Gerichts sorgfältig aus und wird diese, soweit erforderlich, im Rahmen der im Koalitionsvertrag vorgesehenen Reform des Bundesverfassungsschutzgesetzes berücksichtigen.“ Die Prüfung hierzu sei noch nicht abgeschlossen.
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