Warum die italienische Politik so ist, wie sie ist
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Beim Abschluss der Wahlkampagne des Mitte-rechts-Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters von Monza winkt Silvio Berlusconi, der Präsident des Parteivorstands der Partei PDL, auf der Piazza San Paolo Zuschauerinnen, Zuschauern und Anhängern zu.
© Quelle: Claudio Furlan/LaPresse via ZUMA
Silvio Berlusconi, vor wenigen Monaten noch im Krankenhaus und politisch totgesagt, ist wieder da. „1000 Euro Mindestrente für alle!“, verspricht er im Wahlkampf, der seit dem Rücktritt Draghis auf Hochtouren läuft. 1000 Euro – das entspräche fast einer Verdoppelung des bisherigen Betrags. Und: „Jedes Jahr eine Million Bäume pflanzen!“, legt der Cavaliere nach, der in der gegenwärtigen Hitzewelle nun offenbar auch den Klimawandel als Wahlschlager entdeckt hat. Und natürlich fehlt auch sein Evergreen nicht: „Kampf der Unterdrückung durch Steuern und Bürokratie!“ Für den 85-jährigen vierfachen Ex-Regierungschef waren Wahlkämpfe schon immer ein Jungbrunnen. Früher hatte er auch schon versprochen, dass seine Regierung den Krebs besiegen werde, falls er gewählt würde.
Ministerpräsident Draghi tritt zurück
Italiens Regierungschef Mario Draghi hat am Donnerstag seinen Rücktritt bei Staatspräsident Sergio Mattarella eingereicht. Das weitere Vorgehen ist nun unklar.
© Quelle: Reuters
Dass der wegen Steuerbetrugs in Millionenhöhe vorbestrafte Multimilliardär Berlusconi, der Italien mit seinen Bunga-Bunga-Partys auf dem ganzen Globus zum Gespött gemacht und das Land 2011 an den Rand der Zahlungsunfähigkeit regiert hatte, immer noch mitmischt: Das ist bizarr, sagt aber viel aus über die politische Krise in Italien.
Das Problem ist nicht Berlusconi – das Problem sind die fehlenden Alternativen. Denn wen sollen die bürgerlichen Italienerinnen und Italiener sonst wählen? Etwa die aggressiv fremdenfeindliche Lega von Putin-Verehrer Matteo Salvini, der für alle Übel Italiens die Migranten, Brüssel und den Euro verantwortlich macht? Oder die postfaschistischen Fratelli d’Italia, deren Führerin Giorgia Meloni Donald Trump, Viktor Orban und die rechtsextreme spanische Partei Vox als politische Vorbilder aufführt? Oder gar – auch das gibt es in Italiens rechtem Parteienspektrum – die Gruppe mit dem programmatischen Namen Italexit?
Italiens Konservative haben keine politische Heimat
Genau das ist das Problem: Das bürgerliche, politisch gemäßigte Lager in Italien hat mit dem Untergang der katholisch-konservativen Democrazia Cristiana (DC) zu Beginn der Neunzigerjahre seine politische Heimat verloren. Die große Volkspartei, die der deutschen CDU/CSU entsprach, hatte in Italien nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs während fast fünfzig Jahren mit verschiedenen Koalitionen durchregiert. Sie war zwar korrupt, es gab Mafiaskandale zuhauf, aber die Partei verfügte über ein fast unerschöpfliches Reservoir an kompetenten Politikerinnen und Politikern, die das Wohl des Landes bei all den dunklen Seiten der Partei nie ganz aus den Augen verloren. Unter der DC erlebte Italien ein Wirtschaftswunder wie Deutschland und stieg in den Kreis der fünf größten Industrienationen der Welt (G5) auf.
In das von der DC hinterlassene politische Vakuum stieß der Baulöwe und Privat-TV-Tycoon Silvio Berlusconi, der vom Begriff „Landesinteresse“ nicht einmal weiß, was er bedeutet. Er verbündete sich mit der separatistischen und damals schon fremdenfeindlichen Lega Nord von Umberto Bossi, machte die Postfaschisten von Gianfranco Fini regierungsfähig – und erstickte jeden Versuch zur Gründung einer bürgerlichen und europafreundlichen Mitte-rechts-Partei mit seiner Medienmacht im Keim. Eine solche fehlt nun im politischen Angebot seit dreißig Jahren.
Parteichefs bestimmen, wer ins Parlament einzieht - nicht das Volk
Viel einfacher haben es auch die linken Italienerinnen und Italiener nicht. Ihre Parteien haben zwar immer wieder respektable Ministerpräsidenten gestellt – wie Romano Prodi, Giuliano Amato, Enrico Letta, Paolo Gentiloni –, aber linke Regierungen lassen sich im strukturell bürgerlich-konservativen Italien nur mit weit gefassten Koalitionen zimmern, die dann nun allzuoft an ihren Widersprüchen scheiterten. Die sprichwörtliche Zerstrittenheit der italienischen Linken liegt auch daran, dass ihre Vertreter gegensätzlichen politischen Familien und Kulturen entstammen: Die einen haben ihre Wurzeln im sozialen Flügel der katholischen DC, die anderen in der antikirchlichen kommunistischen Partei (PCI) – zwei Parteien, die jahrzehntelang erbitterte Gegner waren.
Hinzu kommt ein Wahlsystem, das bei der Rekrutierung des politischen Personals zu einer Negativauslese führt. Die Abschaffung der Präferenzstimmen in den Neunzigerjahren hatte zur Folge, dass es heute statt der Wählerinnen und Wähler die Parteichefs sind, die beim Verteilen der besten Listenplätze letztlich bestimmen, wer ins Parlament einzieht. Und die Parteichefs suchen sich meist nicht die fähigsten Leute aus, sondern die für sie nützlichsten: Freunde, Wasserträger, Yes-Men.
Berlusconi trieb es dabei wie immer auf die Spitze: Auf die Wahllisten seiner Forza Italia setzte er seine Mätressen, Schönheitsköniginnen, seine Strafverteidiger und seinen Buchhalter. Einer der Anwälte wurde Verteidigungsminister, der Buchhalter Finanzminister, die Schönheitskönigin Ministerin für Gleichstellung. Allerdings: Für die Abschaffung der Präferenzstimmen gab und gibt es gute Gründe: Sie hatten zu DC-Zeiten in großem Stil zu Stimmenkauf geführt und zur Einflussnahme der Mafia. Ein Dilemma, das bis heute nicht gelöst ist.
Weg für Anti-System-Partei war frei
Die Kombination aus dem dürftigen politischen Angebot und dem Systemfehler im Wahlgesetz blieb nicht ohne Folgen: Sowohl die populistische Rechte als auch die zerstrittene Linke haben sich in den vergangenen drei Jahrzehnten als weitgehend unfähig erwiesen, die vielen gravierenden Probleme des Landes zu lösen. Italien ist das einzige Land in der EU, in dem die Reallöhne seit 1995 gesunken sind. Logische Konsequenz: In keinem anderen Land der Union ist das Ansehen der Politikerinnen und Politiker so gering wie in Italien. Nur etwa 10 Prozent der Befragten geben in Umfragen an, Vertrauen in die politischen Parteien zu haben. „Nichtsnutze und Diebe“ hört man in den Bars und auf der Piazza von Turin bis Palermo, wenn man die Italienerinnen und Italiener über ihre Meinung zu den Politikerinnen und Politikern befragt.
Das Versagen der traditionellen Parteien, die Wut und der Frust der Bevölkerung über die immer maroder werdende Infrastruktur, die dramatisch tiefe Qualität der meisten staatlichen Dienstleistungen (bei drückender Steuerbelastung), die Privilegien und der feiste Lebensstil vieler Politikerinnen und Politiker hatten die Voraussetzungen geschaffen für den epochalen Sieg der Fünf-Sterne-Protestbewegung vor viereinhalb Jahren. Die Anti-System-Partei, die mit dem Versprechen angetreten war, die parasitäre Politikerkaste wegzufegen, wurde mit 32 Prozent der Stimmen stärkste Partei des Landes. Im armen Süden, wo die soziale Not, die Perspektivlosigkeit und die Auswanderung der Jungen am ausgeprägtesten ist, betrug der Stimmenanteil in vielen Gemeinden und Städten über 50, in einigen Kommunen 70 Prozent.
Praktisch alle Wahlversprechen gebrochen
Nun sind die „Grillini“ selbst zu einem Teil der Kaste geworden. Die Bewegung, die versprochen hatte, sich niemals mit den anderen Parteien auf Koalitionen einzulassen, hat sich der Macht zuliebe zuerst mit der rechtsradikalen Lega, dann mit dem linken PD und schließlich auch noch mit dem „Banker“ Draghi verbündet. Praktisch alle Wahlversprechen wurden gebrochen, hinzu kamen die Unerfahrenheit und politische Inkompetenz vieler ihrer Vertreterinnen und Vertreter – eine herbe Enttäuschung für die Wählerinnen und Wähler. Bei den kommenden Wahlen wird die Bewegung die Quittung dafür erhalten. Und ein erklecklicher Teil der Protestwählerinnen und -wähler wird in zwei Monaten wahrscheinlich den Rechtspopulisten Berlusconi, Salvini und Meloni die Stimmen geben, die ihnen nun wieder das Blaue vom Himmel versprechen. Sofern sie überhaupt noch an die Urnen gehen.
Denn viele sind das Wählen inzwischen leid: Eine klare Mehrheit der Italienerinnen und Italiener ist über die verantwortungslose Kaltschnäuzigkeit, mit der Draghi letzte Woche von den Fünf Sternen, Berlusconi und Salvini abserviert wurde, ebenso fassungslos wie das Ausland. „Ich werde am 25. September nicht wählen gehen, es ist sinnlos“, sagt Sergio Palazzo, Lido-Betreiber im Badeort Sperlonga südlich von Rom. Jetzt, in der Hochsaison, steht der 60-Jährige von morgens 9 bis abends 20 Uhr in der 45 Grad heißen Küche, sieben Tage in der Woche, während seine „ragazzi“ in der sengenden Sonne Liegestühle, Getränke und Teller mit Spaghetti alle vongole herumtragen. Das Wahlkampfgeschwafel von Berlusconi kann Palazzo nicht mehr hören.
Aber entmutigen lässt er sich nicht, wie Millionen Italienerinnen und Italiener: Sie sind es, die mit ihrer harten Arbeit, einer Portion Fatalismus, mit Lebensmut und Kreativität das Land trotz allem über Wasser halten. Das werden sie auch weiterhin tun, egal, wie die Wahlen in zwei Monaten ausgehen.
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