Warum gibt’s im Osten mehr Verständnis für Russland als im Westen?
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Der russische Präsident Wladimir Putin spricht mit Michael Kretschmer (CDU), Ministerpräsident von Sachsen, im Rahmen des Internationalen Wirtschaftsforums in St. Petersburg im Juni 2019.
© Quelle: Alexei Nikolsky/Pool Sputnik Kre
Berlin. Nein, Lutz Rathenow hält Michael Kretschmer nicht für einen Putin-Versteher, wie der sächsische CDU-Ministerpräsident in letzter Zeit häufig von Kommentatoren und Kommentatorinnen bezeichnet wird, weil er in den vergangenen Monaten mehrfach den Kurs der Bundesregierung gegenüber Russland kritisiert hatte. Kretschmer forderte unter anderem ein „Einfrieren“ des Krieges in der Ukraine und eine diplomatische Lösung, für die sich Deutschland engagieren müsse.
„Der Wille zur ergebnisoffenen Analyse ist nicht gleichzusetzen mit Akzeptanz“, sagt Rathenow im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Kretschmer sei kein Putin-Akzeptierer. Die gäbe es aus „pazifistisch grundierten Gründen“ auch. Aber Kretschmer sei eher jemand, der Russland durch die Möglichkeit eines wirtschaftlichen Wettbewerbs auf Distanz halten will.
Bitterböse Replik auf seinen russischen Lieblingsautor Daniil Charms
Rathenow, der aus Jena stammt und seit Jahren in Berlin lebt, ist im September 70 geworden und hat sich selbst mit einem neuen Buch beglückwünscht. Titel: „Trotzig lächeln und das Weltall streicheln“ (Kanon-Verlag). Dort hält er in Kurzgeschichten Rückschau auf sein Leben – als DDR-Bürgerrechtler, Lyriker, Schriftsteller und Aufarbeiter der SED-Diktatur.
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Der DDR-Oppositionelle Lutz Rathenow ist Lyriker und Prosaautor.
Da ist zum Beispiel eine bitterböse Replik auf seinen russischen Lieblingsautor Daniil Charms, der in sowjetischer Geheimdiensthaft 1943 mutmaßlich verhungerte. Auch andere Satiren über Geheimdienstleute oder Militärs sind zu finden, etwa wenn er von einem möglichen Putschversuch 2011 im ägyptischen Alexandria berichtet, den ein General vom deutschen Goethe-Institut aus in Gang setzen wollte.
Trotzig lächeln und trotzig sein
Oder wenn er Anfang der Nullerjahre Königsberg, das russische Kaliningrad, besucht und Offiziere beobachtet, die auf Stalin und die gute alte Zeit anstoßen.
Trotzig lächeln und trotzig sein. Das konnte Rathenow schon zu DDR‑Zeiten, weshalb er 1976 nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann erstmals kurzzeitig verhaftet und ein Jahr später knapp vor dem Abschluss seines Lehrerstudiums für Deutsch und Geschichte von der Universität Jena gefeuert wurde. Und er ist heute noch trotzig, gibt sich nicht mit schnellen Antworten auf komplizierte Fragen zufrieden, wie etwa die, warum im Osten heute immer noch mehr Verständnis für Russland herrscht als im Westen.
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Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat Deutschland und die anderen Bündnisstaaten zu weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine aufgerufen.
© Quelle: dpa
Ein Gefühl der Dankbarkeit
„Es gibt Ostdeutsche mit Beziehungen zum christlichen Armenien, das sich von russischen Soldaten gegen das muslimische Aserbaidschan beschützt sieht“, erläutert Rathenow. Ostdeutsche Reisegruppen würden in Kirgisien auf den Spuren des von Älteren verehrten Schriftstellers Tschingis Aitmatow wandeln, dessen im Kriegsjahr 1943 handelnde Liebesnovelle „Djamila“ in der DDR Schullektüre war.
Und dann gebe es wohl auch so ein Gefühl der Dankbarkeit, sagt Rathenow. Dankbarkeit darüber, dass im Oktober 1989 in der DDR alles friedlich ablaufen konnte und dass „die eigentlichen Machthaber“ 1994 endgültig abgezogen sind, ohne, dass ein einziger Schuss fiel.
Die ostdeutsche Bevölkerung hat in ihrer Klugheit auf jegliche Attacken gegen Sowjetsoldaten und ihre Kasernen verzichtet, eine Vorleistung auch für die Veränderungen in Osteuropa.
Lutz Rathenow,
DDR-Bürgerrechtler, Lyriker, Schriftsteller
Die Rote Armee stand mit mehr als 330.000 Soldaten in der DDR und hatte auch ein beträchtliches Atomwaffenarsenal unter Kontrolle. „Die ostdeutsche Bevölkerung hat in ihrer Klugheit auf jegliche Attacken gegen Sowjetsoldaten und ihre Kasernen verzichtet, eine Vorleistung auch für die Veränderungen in Osteuropa“, ist Rathenow überzeugt.
Neue wirtschaftliche Kontakte in Richtung Russland
Vielleicht sei das neben dem Mut der ostdeutschen Demonstrantinnen und Demonstranten im Herbst 1989 die zweite große Leistung der friedlichen Revolutionäre und Revolutionärinnen: punktuelle Überlegenheiten nicht auszunutzen. Und Rathenow verweist auf neue wirtschaftliche Kontakte in Richtung Russland, die nach 1990 „von konkreten Menschen unterhalb aller Regierungsebenen“ aufgebaut worden sind.
Als er 2011 nach Dresden kam, waren russische und ukrainische Touristinnen und Touristen ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor; auf dem Flughafen hingen russische Begrüßungstransparente zum Neujahrsfest, erinnert er sich.
Selenskyj: „Jeder russische Angriff bringt das Land dem Tribunal näher“
Russland rückt mit jedem weiteren Raketenangriff gegen die Ukraine nach Ansicht von Präsident Wolodymyr Selenskyj näher an ein internationales Tribunal heran.
© Quelle: dpa
Auf Ausreiseangebote ließ sich Rathenow nicht ein
Rathenow hat viel erlebt. Nach seinem Rauswurf an der Uni 1977 schlug er sich als Transportarbeiter, Beifahrer und freier Schriftsteller durch. Erste Science-Fiction-Erzählungen, die im Kanon-Sammelband auch zu finden sind, berichten von seiner Lust, Grenzen zu überschreiten.
Als 1980 sein Buch „Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet“ in West-Berlin herauskam, wurde Rathenow erneut verhaftet und zehn Tage lang im berüchtigten Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen inhaftiert. Sofort danach schrieb er ein Tagebuch, das er bei seinem Freund Jürgen Fuchs in West-Berlin verstecken ließ, jetzt wiederentdeckte und in „Trotzig lächeln“ nun erstmals veröffentlicht.
Auf Ausreiseangebote ließ sich Rathenow nicht ein, er bildete Netzwerke zwischen Ost und West und beförderte in der Bürgerrechtsbewegung aktiv die friedliche Revolution von 1989 mit.
Zehn Jahre lang sächsischer Landesbeauftragter für Stasi-Unterlagen
Von 2011 bis 2021 hat er sich in Dresden zehn Jahre lang als sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen beziehungsweise für die Aufarbeitung der SED-Diktatur intensiv mit Unrecht, Unterdrückung und Machtmissbrauch beschäftigt. In der letzten Geschichte des neuen Buches grübelt ein Landesbeauftragter über einen Mord an einem Landesbeauftragten …
Mit seiner speziellen Ostperspektive nähert sich Rathenow deutsch-deutschen Themen. Er habe nicht das Gefühl, dass die Sowjetunion zu DDR-Zeiten bei der Masse der Bevölkerung beliebt war, sagt er. In großen Garnisonsstädten wie etwa in Dresden habe es mehr Arbeits- und Alltagskontakte gegeben, sie führten zu „alltäglichen Beziehungselbstverständlichkeiten“.
Russlandverehrung bei Pegida-Demos nennt Rathenow „abstrus“
Die Russlandverehrung bei den fremdenfeindlichen Pegida-Demonstrationen ab 2014 in Dresden fand Rathenow abstrus. Auch wenn die Kundgebungen vom russischen Propagandasender RT live übertragen worden seien, habe die russische Führung wohl ihre Einflussmöglichkeiten auf die inzwischen in die Bedeutungslosigkeit abgerutschte Bewegung überschätzt.
In den letzten Jahren traf Rathenow im Osten auf Menschen, die zu Sowjetzeiten an der Erdölpipeline Druschba (Freundschaft) mitgearbeitet hatten und das als positive Lebenszeit erfuhren, wie sie ihm berichteten. Sie verdienten im sowjetischen Osten Valuta, für die sie im DDR-Intershop Westwaren kaufen konnten.
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„Die Ostdeutschen stehen mehrheitlich zur Ukraine“
Dort, wo in der DDR dann das russische Öl ankam, wie etwa in Schwedt in Brandenburg, sei das Argument dominierend, ohne die im Kalten Krieg von Bonn und Moskau geknüpfte Energiepartnerschaft hätte die Sowjetarmee sich nach 1990 nie herausverhandeln lassen.
Michael Kretschmer, der sächsische Ministerpräsident, sei ein Mann, der so etwas bedenkt, es im Auge hat, weil er selbst aus dem Osten stammt. Und der deshalb auch weiß, dass die ersten sächsischen Unternehmer und Unternehmerinnen schon nach den Russland-Sanktionen von 2014 wirtschaftlich eingebrochen sind und ihre Geschäftsmodelle verloren haben, sagt Rathenow.
„Die Ostdeutschen stehen mehrheitlich zur Ukraine“, ist der ehemalige DDR-Bürgerrechtler überzeugt. Sie würden aber die Frage stellen, wie halten wir das längere Zeit durch und zu welchem Preis? „Und Kretschmer, der will einfach nicht mit Scheuklappen in solche Konflikte rennen.“
Rathenow knüpft bei kritisierter Oststrategie der SPD unter Willy Brandt an
Natürlich sei es jetzt vollkommen richtig, die russische Dominanz bei Energielieferungen nach Deutschland zurückzudrängen, sagt Rathenow. Das müsse aber nicht bedeuten, nie wieder Energie von Russland zu beziehen und einen Wettbewerb anzubieten. „Auch, um die Ukraine künftig unterstützen zu können.“
Rathenow knüpft gedanklich bei der jetzt häufig kritisierten Oststrategie der SPD unter Kanzler Willy Brandt an. Der hatte ab Ende der 1960er-Jahre unter dem Slogan „Wandel durch Annäherung“ versucht, den Eisernen Vorhang zu öffnen und Kontakte zu den kommunistischen Nachbarländern angebahnt. Seit Russlands brutalem Überfall auf die Ukraine steht diese Entspannungspolitik als „verunglückte Dialogdiplomatie“ im Kreuzfeuer der Kritik.
Die alte Ostpolitik der SPD habe ich an einigen Punkten kritisiert, zum Beispiel Aspekte im Kulturabkommen. Dennoch ist ganz klar: Sie hat die Voraussetzungen für die deutsche Einheit geschaffen und dazu beigetragen, dass Leute wie ich in der DDR überhaupt die Klappe aufmachen konnten.
Rathenow
Rathenow sagt dazu: „Die alte Ostpolitik der SPD habe ich an einigen Punkten kritisiert, zum Beispiel Aspekte im Kulturabkommen. Dennoch ist ganz klar: Sie hat die Voraussetzungen für die deutsche Einheit geschaffen und dazu beigetragen, dass Leute wie ich in der DDR überhaupt die Klappe aufmachen konnten.“
Die Möglichkeit, Manuskripte für Zeitungsartikel oder Nachrichten aus der DDR über akkreditierte Westkorrespondenten und Westkorrespondentinnen „nach drüben“ zu schaffen oder umgekehrt von dort verbotene Literatur zu bekommen, sei ein von der DDR nie geplantes Resultat dieser Politik gewesen, ist sich Rathenow sicher. Sein neues Buch zeigt mit den damaligen unterschiedlichsten Veröffentlichungsorten im Westen die Entfaltungsmöglichkeiten eines DDR-Dissidenten mit Reiseverbot.
Rathenow: Russland noch „zu vielen zynischen Reaktionen in der Lage“
Mit Blick auf Russland fragt Rathenow, warum es bei Abkommen zum Getreideexport oder bei Vereinbarungen zum Gefangenenaustausch bleiben muss. Aus seiner Sicht gehe Kretschmer rational an die Dinge heran und versuche, darauf hinzuwirken, dass man auch auf anderen Themenfeldern mit Moskau im Gespräch bleibt – wie die Amerikanerinnen und Amerikaner das ja beispielsweise in Sachen gemeinsamer Weltraumissionen auch tun würden.
Rathenow gibt zu bedenken, dass Russland noch „zu vielen zynischen Reaktionen in der Lage ist“. Dennoch hält er nichts von Angstdebatten wegen eines möglichen Atomkriegs. Solche „Endloskriegsdiskussionen“ würden es dem Kreml immer wieder ermöglichten, die Atomkarte auszuspielen und zurückzuziehen. Rathenow: „Letztlich müssen wir beweisen, dass wir das bessere System haben – wirtschaftlich und politisch.“