Weihnachten in der Hölle des Krieges: Fußball auf dem Schlachtfeld und Christmas Bombing
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Das undatierte Amateurfoto aus dem Bestand von United Archives zeigt deutsche und englische Soldaten beziehungsweise Offiziere während des inoffiziellen Waffenstillstands zu Weihnachten im Jahr 1914.
© Quelle: picture alliance / dpa
Berlin. Sie ist eine Ikone in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche auf dem Berliner Breitscheidplatz. Dabei ist die Stalingradmadonna eine schlichte Kohlezeichnung auf der Rückseite einer russischen Landkarte – nichts Goldenes ist an ihr.
Eingerahmt ist die Madonna, die ein Kind unter ihrem Umhang schützt, von den Worten „1942 Weihnachten im Kessel – Festung Stalingrad – Licht, Leben, Liebe“. Das war vor 80 Jahren.
Ihr Schöpfer, der Militärarzt Kurt Reuber, zählte zu den insgesamt rund 300.000 bis zum Winter 1942/1943 in Stalingrad eingekesselten Wehrmachtsangehörigen. Die 105 mal 80 Zentimeter messende Holzkohlezeichnung fand ihren Weg in einer der letzten ausgeflogenen Transportmaschinen zur Familie Reubers in Nordhessen.
„Dunkelheit, Tod und Hass“
„Was soll ich dazu noch sagen?“, schrieb Reuber, der zugleich evangelischer Pastor war, in einem Begleitbrief an seine Frau. „Wenn man unsere Lage bedenkt, in der Dunkelheit, Tod und Hass umgehen – und unsere Sehnsucht nach Licht, Leben, Liebe, die so unendlich groß ist in jedem von uns!“
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Die berühmte „Madonna von Stalingrad“, die der Arzt und Theologe Dr. Reuber zu Weihnachten 1942 im Kessel von Stalingrad anfertigte. Reuber selbst starb 1944 im Offizierslager Jelabuga. Die „Madonna“ befindet sich heute in Berlin in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.
© Quelle: picture alliance / akg-images / Sammlung Foedrowitz
Heute, 80 Jahre nach dem Entstehen dieses eindringlichen Bildes, ist wieder Krieg in Europa. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar dieses Jahres hat Dunkelheit, Tod und Hass über zwei Völker gebracht, die sich bis dahin als Brudervölker betrachteten. Viele Ukrainer, deren Energieinfrastruktur von den Russen zu einem beträchtlichen Teil zerstört worden ist, sitzen zum Heiligabend, der in beiden Ländern von orthodoxen Christen am 6. Januar begangen wird, in der Kälte.
Weihnachten im Krieg. Das vergangene Jahrhundert war voll davon. An der Front litten die Soldaten, zu Hause bangten Eltern, Frauen, Kinder, Freunde. So besonders dieses frohe Fest in der christlichen Welt ist, so quälend und traurig kann es in Zeiten des Krieges sein.
Das Weihnachtswunder
Und doch gibt es Ausnahmen. Der 24. Dezember 1914 ist solch ein seltener Heiligabend.
Seit fast genau fünf Monaten tobt eine mörderische Auseinandersetzung auf dem alten Kontinent. Nach der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien – nach dem Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914 – stehen sich das Deutsche Kaiserreich, Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich und Bulgarien einerseits sowie Frankreich, Großbritannien und das British Empire sowie Russland, Serbien, Belgien, Italien, Rumänien, Japan und die USA auf der anderen Seite gegenüber.
40 Staaten sind am bis dahin umfassendsten Krieg der Geschichte beteiligt, annähernd 70 Millionen Menschen bekämpfen einander mit Waffen. Der Erste Weltkrieg endet erst vier Jahre und 17 Millionen Tote später.
Gräben in Eislöchern
Der Heiligabend 1914 beginnt an der Westfront in Flandern, an der sich Deutsche und Briten in Schützengräben gegenüberliegen, wie jeder andere Tag im ersten Kriegswinter. Die Gräben sind Eislöcher, überall nur Kälte und Schmutz. Immerhin: Es regnet nicht mehr.
Die deutschen Soldaten erhalten gestiftete Pakete aus der Heimat und Sendungen ihrer Familien. Die Heeresleitung schickt Zehntausende Miniaturweihnachtsbäume an die deutschen Fronten, die zu Weihnachten erleuchtet werden sollten.
Die Briten bekommen eine Geschenkbox ihres Königs, George V. Darin sind Schokolade, Tabak und eine Grußkarte von Prinzessin Mary.
Wann das Weihnachtswunder oder der Weihnachtsfrieden beginnt, wer oder was Auslöser war – darüber herrscht keine Einigkeit unter Historikerinnen und Historikern. Festzustehen scheint, dass die Soldaten beider Seiten – die stellenweise nur 50 bis 100 Meter entfernt voneinander sind – ihre Gaben unbeschadet genießen wollen.
Deutsche machen einem britischen Korrespondenten zufolge den Anfang, als sie einen Schokoladenkuchen durch Niemandsland zur britischen Linie schmuggeln, die Briten revanchieren sich an anderen Frontabschnitten mit Christmas Pudding. Auch deutsches Bier soll fässerweise die Seiten gewechselt haben. Die Gegner singen sogar gemeinsam Weihnachtslieder. Offiziere befehlen, an den Feiertagen nicht zu schießen.
Sehnsucht nach Frieden
Die „Times“ veröffentlicht später den Brief eines deutschen Leutnants, in dem er über ein Fußballspiel zwischen Deutschen und Briten bei Frelinghien-Houplines berichtet, das 3:2 ausgegangen sei – für die Deutschen. Was daran stimmt und was Legende ist, kann heute kaum noch geklärt werden.
Es ist vor allem die Sehnsucht nach Frieden und Wunder im Krieg, die solche Berichte befördern – und das ist ja auch gut so.
Ironie der Geschichte: Ausgerechnet Deutsche und Franzosen haben 2005 die Koproduktion „Merry Christmas“ mit Schauspielern wie Benno Führmann, Diane Kruger und Daniel Brühl über die Ereignisse an den Schützengräben in die Kinos gebracht. In Frankreich, wo diese so gut wie unbekannt waren, wurde der Film zum Hit.
Weihnachten 1942, als Kurt Reuber seine „Madonna vor Stalingrad“ zeichnete, ist an einen schützengräbenübergreifenden Frieden zwischen den eingekesselten Deutschen und den ihre Heimat verteidigenden Sowjetsoldaten nicht zu denken. Im Spätsommer war Stalingrad von den Deutschen angefriffen worden. Nun zählt im Kessel nur das nackte Überleben in der Eiseskälte.
Goebbels bietet Schlagerstars auf
Daran ändert auch die von Propagandaminister Joseph Goebbels beauftragte Weihnachtsringsendung nichts, zu der Schlagerstars wie Marika Rökk, Zarah Leander („Es wird einmal ein Wunder geschehen“) und Johannes Heesters dienstverpflichtet worden sind und in der Frontsoldaten wehmutsvoll „Stille Nacht, heilige Nacht“ singen.
Zu diesem Zeitpunkt sind bereits viele Deutsche ernüchtert: Spätestens seit der Anfang 1942 gestarteten sowjetischen Gegenoffensive ist der Zweite Weltkrieg auch für Hitler-Anhänger in Uniform die Hölle. Berichte aus der Heimat verstärken den Eindruck. Schon im Jahr zuvor hatte es in Geschäften kaum noch Geschenke zum Kaufen gegeben. Und gerüchteweise war noch von einer Weihnachtsbaumverknappung zu hören gewesen.
Nun, Weihnachten 1942, stehen die Alliierten kurz davor, die Lufthoheit über Deutschland zu erringen – der Krieg ist nichts mehr, wohin die Männer aufbrechen müssen. Er wird allgegenwärtig, mit Dunkelheit, Kälte, Tod und Hass.
Christmas Bombing in Vietnam
Weihnachten im Krieg – für die meisten Kriegsparteien ist es keine Zeit fürs Innehalten, höchstens für militärstrategische Planspiele. Die Geschichte kennt sogar die pervers anmutende Bezeichnung „Christmas Bombing“. Unter diesem Namen ist die „Operation Linebacker II“ bekannt geworden, bei der die US-Airforce im Dezember 1972 die nordvietnamesische Hauptstadt Hanoi bombardierte. Es waren die schwersten Luftangriffe seit Ende des Zweiten Weltkriegs.
Die US-Sängerin Joan Baez erlebte sie in einem Hotelbunker in Hanoi. Auf ihrem 1973 veröffentlichten Album „Where Are You Now, My Son?“ berichtet die Künstlerin von ihren Eindrücken, untermalt mit Tonbandaufzeichnungen des Geschehens.
Kurt Reuber zeichnete übrigens ein Jahr später, also Weihnachten 1943, eine weitere Madonna. Zu diesem Zeitpunkt gehörte der Arzt zu den 90.000 deutschen Stalingrad-Überlebenden und Kriegsgefangenen. Zunächst im Lager Oranki, am Ende im Lager Jelabuga. Reubers zweite Madonna – die „Gefangenenen-Madonna“ – wirkt mit ihren tiefen Falten trostlos und verzweifelt wie ihr Schöpfer.
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Die sogenannte „Gefangenen-Madonna“ zeichnete Kurt Reuber kurz vor seinem Tod.
© Quelle: Privat
Er schreibt dazu: „So ganz am Ende, vor dem Nichts, im Bann des Todes – welch eine Umwertung der Werte hat sich in uns vollzogen! So wollen wir diese Wartezeit nützen als Familie, im Beruf, im Volk. Mitten auf unserem adventlichen Todesweg leuchtet schon das Freudenlicht der Weihnacht als Geburtsfest einer neuen Zeit, in der – wie hart es auch sein möge – wir uns des neugeschenkten Lebens würdig erweisen wollen.“
Die Zeichnung und der Brief erreichen Reubers Frau Martha und die drei Kinder erst 1946. Sie kommen zusammen mit der Todesnachricht. Kurt Reuber war im Januar oder im April 1944 im Kriegsgefangenenlager an Flecktyphus gestorben.
Info: Der ursprüngliche Text enhielt fehlerhafte Angaben zum Kessel von Stalingrad. Der Kessel begann nicht im Spätsommer 1942, sondern zu diesem Zeitpunkt wurde die Stadt von den Deutschen angegriffen. Die Einkesselung durch sowjetische Truppen erfolgte ab November 1942. Außerdem begann die sowjetische Gegenoffensive im deutsch-sowjetischen Krieg zu Jahresbeginn 1942, nicht 1941. Deutschland hatte im Juni 1941 ohne Kriegserklärung die Sowjetunion überfallen.