Zwischen „Pushbacks“ und humanitärer Hilfe: Kritik an Ungarns Umgang mit Geflüchteten
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Die Jacke eines Kindes trocknet in der Waschküche eines Wohnheims für Geflüchtete. Fast 300 ukrainische Flüchtlinge sind in einem Wohnheim außerhalb des Stadtzentrums von Budapest untergebracht. Das fünfstöckige Gebäude wurde von einer ungarischen humanitären Organisation angemietet, die von der rechtsgerichteten, einwanderungsfeindlichen Regierung des Landes seit langem bekämpft wird.
© Quelle: Anna Szilagyi/AP/dpa
Belgrad. Nach Beginn des Ukraine-Kriegs öffnete Ungarn seine Grenzen für zehntausende Flüchtlinge. Andere Geflüchtete waren jedoch weniger willkommen - und wurden mittellos nach Serbien abgeschoben.
Nachdem er schon drei Jahre in Ungarn studiert hatte, stellte Hassib Karisada dort einen Asylantrag, als sein Heimatland Afghanistan im August vergangenen Jahres im Chaos versank. Doch statt ihm einen Flüchtlingsstatus zuzuerkennen, wiesen die Behörden den jungen Mann vor sechs Monaten ins benachbarte Serbien aus, das er nicht einmal kannte.
„Die Polizei tauchte einfach auf und legte mir Handschellen an“, berichtet Karisada der AP in Belgrad. „Sie sagten mir, ich solle nicht versuchen, zu flüchten oder mit ihnen zu kämpfen, und keine Dummheiten machen.“ Die Beamten ließen den 25-Jährigen orientierungslos und ohne eine Menschenseele in Sicht auf einem Acker in Serbien zurück. Karisada hatte keine Ahnung, wo er war, wohin er gehen oder was er tun sollte.
„Ich war Student und sie haben meinem Leben einfach eine völlig andere Wendung gegeben“, erzählt er. „Sie haben mir nicht die Möglichkeit gegeben, meine Kleidung mitzunehmen, mein Ladegerät oder mein Laptop oder irgendetwas Wichtiges, das ich unterwegs brauchen würde.“ Die ungarische Polizei äußerte sich auf AP-Anfrage zunächst nicht zu Karisadas Ausweisung im September.
Harter Umgang mit Migranten ist berüchtigt
Ungarn ist zwar berüchtigt für seinen harten Umgang mit Migranten, die vor Krieg und Armut flüchten. Karisadas Fall verweist aber auf die besonders kritische Praxis, Menschen in ein Drittland abzuschieben, aus dem sie nicht gekommen sind.
Menschenrechtler in der Region registrierten den ersten derartigen Fall im Jahr 2017. Damals wurde ein 16-jährige Kurde aus dem Irak von Ungarn nach Serbien deportiert, obwohl er eigentlich über Rumänien eingereist war. In jüngerer Zeit wurde etwa im Dezember vergangenen Jahres eine Frau aus Kamerun, die ebenfalls aus Rumänien nach Ungarn gekommen war, nach Serbien geschickt. Auch eine weitere Afrikanerin, die aus Dubai kommend nach Ungarn geflogen war, landete schließlich auf einem Feld in Serbien. Das Verfahren sei leider zur Normalität geworden, sagt der serbische Menschenrechtsanwalt Nikola Kovacevic.
Karisadas Ausweisung veranschaulicht, wie extrem unterschiedlich die rechtsgerichtete Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán mit Flüchtlingen aus der Ukraine und jenen aus nicht-europäischen Kriegsgebieten umgeht. Ähnlich stellt sich die Lage in Kroatien dar.
Aktivisten warnen vor Diskriminierung
Aktivisten loben zwar die Offenheit gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine. Sie warnen aber zugleich vor einer Diskriminierung von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten und aus Afrika, die seit Jahren an den Grenzen Ungarns, Kroatiens und anderer europäischer Staaten Gefahren und Zurückweisungen ausgesetzt sind.
Der Kontrast sei kaum zu übersehen, sagt Judith Sunderland von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch: „Eine erschütternde Zahl von Menschen aus Asien, Afrika und dem Nahen Osten stirbt jedes Jahr bei dem Versuch, nach Europa zu gelangen.“ Zsolt Szekeres vom Ungarischen Helsinki-Komitee sagt, „die (ungarische) Regierung versucht jetzt zu erklären, warum Ukrainer gute Asylsuchende sind und andere schlechte Migranten sind“.
Sogenannte Pushbacks, bei denen Menschen ohne Prüfung ihrer individuellen Umstände von einem Land in ein anderes geschickt werden, sind laut Völkerrecht illegal. Der Verstoß sei noch gravierender, wenn Menschen - so wie Karisada - in ein Land abgeschoben werden, aus dem sie nicht kamen, erklärt Anwalt Kovacevic.
Die Ausweisung des afghanischen Studenten wiegt besonders schwer, da er nicht über eine illegale Migrationsroute nach Ungarn gereist war. Karisada lebte in einer WG in Budapest und war in der Stadt längst heimisch geworden. Er beantragte Asyl, weil seine Familie wegen der Unruhe in Afghanistan nicht mehr für seine Studiengebühren aufkommen und er deshalb seine Aufenthaltserlaubnis nicht verlängern konnte.
Mit der Ablehnung seines Asylantrags ließen die ungarischen Behörden aus Sicht von Aktivisten die Tatsache außer Acht, dass Karisadas Heimatland nach der Rückkehr der radikalislamischen Taliban nicht mehr als sicher gelten konnte. Seiner Familie drohe aufgrund ihrer Verbindungen zur vorherigen afghanischen Regierung Vergeltung, sagt er der AP: „Sie gehen kaum aus dem Haus.“
Anwälte des Helsinki-Komitees brachten Karisadas Fall sowohl vor ungarische Gerichte als auch vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die rechtswidrige Abschiebung des Mannes verstoße gegen die Europäische Konvention für Menschenrechte, sagt Szekeres.
Ungarische Gerichtsentscheidung
Ein ungarisches Gericht entschied zugunsten von Karisada. Doch die Anwälte führen nun einen weiteren Rechtsstreit, um die ungarischen Behörden dazu zu zwingen, die Entscheidung auch umzusetzen und dem Studenten die Rückkehr zu ermöglichen, wie der Anwalt erklärt.
Für Karisada waren die Tage nach der Ausweisung die schlimmsten seines Lebens, wie er erzählt. Nach stundenlangem Fußmarsch erreichte er schließlich eine Tankstelle, wo er sein Handy aufladen durfte und eine Frau ihm den Weg zum nächsten Aufnahmezentrum für Asylsuchende zeigte.
Die Aufnahme der ukrainischen Kriegsflüchtlinge zeigt nun aus Sicht von Anwalt Szekeres, dass trotz der seit Jahren einwanderungsfeindlichen Agenda der Regierung in der ungarischen Bevölkerung die Solidarität für Notleidende weiter groß sei. „Es besteht kein Unterschied zwischen ukrainischen Eltern, die mit ihren Kindern flüchten, und afghanischen Eltern, die mit ihren Kindern flüchten“, sagt er. „Das ist für alle eine gute Erinnerung daran, dass Asylsuchende unabhängig von ihrer Herkunft Schutz brauchen.“
RND/AP