Queerer Grammy-Hit aus Uckerath: Wie Kim Petras zum Weltstar wurde
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Kim Petras bei ihrer Dankesrede bei den Grammy Awards.
© Quelle: Getty Images for The Recording A
Hannover. Es ist ein ziemlich furchtbarer Tag, irgendwann Ende der Neunzigerjahre, der schon ziemlich furchtbar begonnen hatte. Kim Petras sitzt im Badezimmer ihres Elternhauses und weint. Ihren eigenen Körper findet sie schrecklich – und das einzige Mittel, das dagegen hilft, darf sie nicht benutzen. Mit einem Kleid hatte sie am Morgen in die Schule gehen wollen – doch das wäre viel zu auffällig gewesen.
Dieser ziemlich furchtbare Tag, irgendwann Ende der Neunziger, ist aber auch einer, der alles verändert. Von einem „Hoffnungsmoment“ spricht Petras rückblickend in Interviews. Ihre Mutter habe das Badezimmer betreten, ihre Tochter ernst genommen und ihr schließlich erklärt, dass es für ihr Problem eine Lösung gebe. Es ist der Beginn einer langen Reise, die schließlich mit einer Transition – der Geschlechtsangleichung – von Kim Petras endet.
Rund 25 Jahre nach diesem Zusammenbruch im Badezimmer steht Petras auf einer großen Bühne in Los Angeles und dankt ihrer Mutter. „Ich bin an einer Schnellstraße mitten im Nirgendwo in Deutschland aufgewachsen“, sagt die Sängerin vor einem internationalen Millionenpublikum. „Und meine Mutter hat mir geglaubt, dass ich ein Mädchen bin. Ohne sie wäre ich nicht hier.“ Kim Petras hält einen Grammy in den Händen – es ist der erste Award dieser Art für eine offen transsexuell lebende Person.
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Ein steiniger Weg
Will man die Geschichte von Kim Petras erzählen, dann gibt es mindestens zwei Handlungsstränge. Der eine spielt in Musikstudios und auf großen Bühnen in Kalifornien – der andere in einem deutschen Kinderzimmer in Uckerath bei Köln, auf das sich Mitte der 2000er-Jahre viele Fernsehkameras richten. Petras gilt damals als die „jüngste Patientin Deutschlands“, die sich einer Hormonbehandlung unterziehen lässt. Für Fernsehsender und Magazine ist der Weg der jungen Rheinländerin so interessant, dass die fortan dauerhaft im Privatfernsehen zu sehen ist.
Der Weg zum richtigen Körper ist aber kein einfacher. Petras und ihre Eltern erzählen in Fernsehbeiträgen von Psychologen und Psychiatern, die ihr Kind einfach nicht ernst genommen hätten. Einige hätten der Familie bescheinigt, ihre Tochter sei verrückt – aber sicher nicht transsexuell. Ein Kinderarzt soll der Familie gar Angst gemacht haben: „Hormonbehandlung! Geschlechtsanpassung! Wie können Sie dem Kind so etwas antun?“, so das Zitat.
Auch Kim Petras selbst habe unzählige Fragen von Psychologen und anderen Ärzten über sich ergehen lassen müssen. „Was ist denn so schlimm daran, ein echter Kerl zu sein? Hast du das schon mal versucht? Wie findest du deine Mutter? Warst du schon mal verliebt? In einen Jungen oder ein Mädchen? Magst du deinen Penis?“, seien nur einige dieser Fragen gewesen.
Mobbing in der Schule
Für Petras ist die Sache hingegen längst klar. Ihr Zimmer unter dem Dach des Einfamilienhauses sei ein Mädchenparadies in Rosa, darin Modezeitschriften, Schminktischchen, Nähmaschine und sogar eine eigene Schaufensterpuppe, berichtet das Magazin „Der Spiegel“ im Jahr 2007. Jeder Friseurbesuch habe in einem großen Weinkrampf geendet. In einem Interview mit der „Zeit“ spricht Petras auch über Suizidgedanken.
Das Thema Transsexualität ist damals noch nicht so präsent wie heute. Die Eltern glauben zunächst an eine Phase. Erst Recherchen im Internet bringen sie auf Geschichten von Männern und Frauen, die als Kinder im falschen Körper unglücklich gewesen seien. Sie geben dem Wunsch ihrer Tochter nach: Zu Hause wird Petras künftig nicht mehr mit männlichem Vornamen angesprochen, sondern mit Kim. Sie darf ihre Haare lang tragen, feiert fortan Mädchengeburtstage und geht zum Ballett. „Wir haben Kim immer als Mädchen gesehen, aber nicht als Problem“, sagt ihr Vater seinerzeit dem „Spiegel“. Nur in der Schule tritt Kim neutraler auf – hier wird sie jahrelang gemobbt.
Mit den Ärzten klappt es schließlich doch noch. Die Eltern lassen sich zwei unabhängige Gutachten erstellen: Beide bestätigen, dass ihr Kind transsexuell ist. Das Endokrinologikum in Hamburg behandelt Petras schließlich. Die Spezialisten stoppen mit Spritzen zunächst die männliche Pubertät und verschreiben dann Hormone, die die weibliche Veränderung des Körpers anregen. Etwa zur selben Zeit erhält Petras auch ganz amtlich ihren weiblichen Vornamen für den Personalausweis. Bereits mit 14 Jahren bittet Petras zudem um eine geschlechtsangleichende Operation. Zwei Jahre später gibt sie auf ihrem Blog bekannt, operiert worden zu sein. Sie ist damit die weltweit jüngste Transsexuelle, die so behandelt worden ist.
All das findet schon damals in der breiten Öffentlichkeit statt. Petras sitzt im Studio von Stern TV, ist in der Vox-Reportage „Mann oder Frau?“ und in spanischsprachigen Reportageformaten zu sehen. In der NDR-Talkshow lässt sich die junge Frau von Barbara Schöneberger und Hubertus Meyer-Burckhardt über ihren Lebensweg ausfragen. Einen gewissen Hang zu den Medien haben Kim und ihre Familie durchaus. Dass aus ihr allerdings mal ein internationaler Superstar werden würde, ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar – womit wir beim zweiten Handlungsstrang dieser Geschichte wären.
Erste musikalische Gehversuche
Eigentlich will Petras was mit Mode machen. Sie träumt von einem Job in Paris, heißt es in Berichten von damals. 2007 allerdings beginnt Petras auch, erste Gesangsvideos ins Internet zu stellen – darunter sind einige eigene Kompositionen. Der Song „Last Forever“ erhält erste Aufmerksamkeit auf Youtube und der Plattform Myspace – hier wird das Lied rund 200.000-mal abgerufen. Der erste Schritt zu einer großen Erfolgsgeschichte.
„Last Forever“ ist klassischer US-Pop der 2000er-Jahre. Petras säuselt etwas von „perfekten Momenten“, die einem niemand nehmen könne, sie seien „magic and fun“. Der deutsche Akzent der Sängerin ist damals noch deutlich zu hören – auf Youtube ist eine Collage zum Song zu sehen mit Bildern, die die Sängerin auf einem Pferd, auf einem Zebrasofa und zusammen mit ihrer Mutter zeigen. Andere Stücke von Petras, etwa „Fade Away“, sind ausgestattet mit übertriebenen Autotune-Effekten. Das Musikvideo zum Song zeigt Petras in 4:3-Webcam-Optik am Klavier, beim Schminken und am Mikrofon.
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Während die Sängerin über die noch jungen sozialen Netzwerke immer mehr Fans gewinnt, interessiert sich in Deutschland kaum jemand für die Werke Petras’. Produzenten schicken vor allem Absagen, erzählt sie später in Interviews. „Deine Songs klingen zu amerikanisch, das funktioniert in Deutschland nicht. Dein Sound ist zu Pop“, sollen sie gesagt haben.
Ganz allein nach L. A.
Für Petras allerdings ist das kein Grund aufzugeben: Die Teenagerin reist nach Los Angeles, mit 19, ganz allein und auf eigene Kosten. Hier, in den Staaten, will sie vor allem als Songwriterin durchstarten: „Ich habe auf einer Studiocouch geschlafen, hatte kein Geld und immer nur Touristenvisa“, sagt sie im Interview mit der „Zeit“. „Aber ich habe schnell Leute kennengelernt, jeden Tag drei Songs geschrieben.“
Der Durchbruch gelingt Petras schließlich, als Sängerin Fergie, einst Frontfrau der Black Eyed Peas, auf sie aufmerksam wird. Sie nimmt einen Song auf, den Petras geschrieben hat. Er wird zwar nicht veröffentlicht – die Musikerin erhält daraufhin aber trotzdem einen Vertrag und arbeitet künftig mit namhaften Produzenten zusammen.
Als Sängerin ist Petras zunächst im Hintergrund aktiv. 2013 nimmt sie für den deutschen House-Produzenten Klaas den Song „Flight to Paris“ auf. Im Song „Heartbeat“ ist Petras zudem im Musikvideo zu sehen – namentlich genannt wird sie allerdings nicht. Später arbeitet Petras auch mit internationalen EDM-Künstlern zusammen. Zu den erfolgreichsten Kooperationen gehört der harmonische Song „Feeling of Falling“ mit dem Trio Cheat Codes aus Los Angeles, weitere Zusammenarbeiten entstehen mit Charli XCX und dem Norweger Kygo.
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Ein trans Star in der Nische
Erste Achtungserfolgre als Solokünstlerin gelingen Petras im August 2017 mit dem Song „I don’t want it all“. Das Stück ist eine Dance-Pop-Nummer mit Achtzigerjahreeinflüssen und quietschpinkem Musikvideo, in dem sogar Paris Hilton einen Gastauftritt hat. Es erreicht die Spitze der Spotify Global Viral Charts und bereitet den Weg für weitere erfolgreiche Streaminghits.
2019 veröffentlicht Petras ihr Debütalbum „Clarity“, es folgt eine eigene Tour in den USA von Oktober 2019 bis Februar 2020, dann weitere EPs, eine mit dem krawalligen Namen „Slut Pop“.
Der ganz große Durchbruch bleibt trotzdem aus – und dafür meint Petras auch den Grund zu kennen: Plattenfirmen wissen mit der trans Künstlerin nichts anzufangen. „Du machst queere Clubmusik, du bist eine Nische und wir wissen nicht, wie wir dich vermarkten sollen“, erklärt Petras das Problem dem US-Magazin „Variety“. So werden die Songs der deutschen Musikerin zwar fleißig gestreamt – dabei bleibt es aber auch.
„Unholy ändert alles“
All das ändert sich im Herbst 2022. Superstar Sam Smith entscheidet sich, mit Petras zusammen zu arbeiten. Beide schicken sich immer wieder Songs hin und her – bei „Unholy“ macht es schließlich klick. „Es ergab einfach Sinn“, sagt Petras über die Zusammenarbeit „Ich konnte zu der Storyline wirklich etwas beitragen.“ Eine Woche später treffen sich Smith und Petras erstmals in den Capitol Studios in L. A.
„Unholy“ ist ein völlig versextes und provokantes Stück Musik. In den Studios habe Petras „gefreestyled“ und schließlich ihre Strophe geschrieben. Anschließend habe man das Lied gemeinsam vollendet. „Wir saßen auf dem Boden, tranken Whiskey und rauchten Gras und füllten die Lücken aus“, so die Sängerin gegenüber dem Magazin. Unterstützung bekam das Duo von einigen der größten Songwritern und Produzenten der Musikszene, darunter ILYA, Cirkut, Omer Fedi und Blake Slatkin.
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Als „Unholy“ schließlich veröffentlicht wird, bricht der Song alle Rekorde. Zunächst verbreitet sich das Stück massenhaft auf Tiktok, dann steigt es auf Platz drei in die Hot 100 ein – zudem in die Charts vieler anderer Länder. In den folgenden Wochen klettert es sogar auf Platz eins. „Es war mein erster Hot-100-Eintrag und er kam auf Platz eins – das ist verrückt“, sagt Petras dem Magazin. „Es hat mich wirklich stolz auf all die Arbeit gemacht, die es gekostet hat, zu diesem Punkt zu kommen. Und auf all die Jahre, in denen ich in Clubs aufgetreten bin und es sehr stressig war.“
Darüber hinaus ist Petras stolz auf den Song, weil er queeres Leben feiert. Die Plattenfirmen hatten schlichtweg unrecht gehabt. Transsexuelle Künstlerinnen und Künstler sind mitnichten Nische. „‚Unholy‘ hat vielen Leuten bewiesen, dass es keine Rolle spielt, welche Geschlechtsidentität man hat, wenn man gute Musik macht“, sagt Petras.
Die Erste, aber nicht die Letzte
Der Grammy für „Unholy“ ist nun der Höhepunkt dieses Erfolgs. Ausgezeichnet wurde der Song in der Nacht zu Montag als „Best Pop Duo/Group Performance“, eine Auszeichnung, die zuvor Songs wie „Get Lucky“ von Daft Punk und Pharrell Williams oder „Shallow“ von Lady Gaga und Bradley Cooper erhalten hatten.
Mit dem Song schreibt die deutsche Kim Petras aus Uckerath bei Köln nicht nur Musikgeschichte – sondern auch Geschichte innerhalb der LGBTQ+-Szene. Sie ist die erste offen transsexuelle Solokünstlerin, die mit einem Song Platz eins der US-Billboard-Charts erreicht. Die Komponistin Wendy Carlos hatte in den Siebzigerjahren drei Grammys gewonnen, hatte aber erst Jahre später erklärt, dass sie eine Transition hinter sich hatte. Sam Smith ist zugleich der erste Künstler mit diesem Erfolg, der sich als nicht binär definiert.
Die Dankesrede hielt Petras selbst – dazu habe sie Sam Smith höchstpersönlich ermutigt. Neben ihrer Mutter dankte Petras auch allen transgender Legenden, die vor ihr „die Türen aufgestoßen haben“. Mitunter erinnerte die Sängerin an die Produzentin und Sängerin SOPHIE, die 2021 mit nur 34 Jahren verstorben war.
Petras ist sich sicher: Sie wird nicht die Letzte sein. „Ich hoffe, dass ich die Türen für neue Künstler öffne“, sagt sie dem Magazin „Variety“. „Ich habe das Gefühl, dass ich die Fackel für alle trage, die vor mir kamen, und es fühlt sich wirklich schön und erstaunlich an, dass ich das tun darf.“