Verzweifeln am Flugchaos

Posse einer Flugreise: Wenn der Koffer eigene Wege geht

Mein Koffer und ich – wir teilen seit gut 20 Jahren die schönsten Momente des Jahres miteinander. Jede Reise hat auf der metallischen Außenhaut eine Narbe in Form kleiner Beulen und Kratzer hinterlassen. Doch jüngst gingen mein Koffer und ich auf Reisen erstmals getrennte Wege – und das hat viel mit einer Welt zu tun, deren Logistik aus den Fugen geraten ist.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Tatsächlich stieg die Rate fehlgeleiteten, verspäteten oder verlorenen Gepäcks im Zuge der Normalisierung des weltweiten Flugverkehrs nach der Pandemie um 24 Prozent auf 4,35 Fälle pro 1000 Passagierinnen und Passagiere, wie der Datenverarbeitungs- und Kommunikationsdienst der Luftfahrtunternehmen Sita 2022 veröffentlicht hat. Während Gepäckprobleme bei Inlandsflügen (1,85 Fälle pro 1000 Reisende) kaum ins Gewicht fallen, sind es auf internationalen Routen 8,7 Fälle pro 1000 Reisende.

Mein Koffer ist immer der letzte

Als ich ein Kind war, da gab es eine beliebte Spielshow im Fernsehen: „Am laufenden Band“ mit Showmaster Rudi Carrell, in deren Höhepunkt die Gewinner auf ein Laufband starren mussten, auf dem Konsumartikel durchs Bild sausten. Es galt, sich zu konzentrieren und anschließend möglichst viele der Dinge zu benennen, um sie dann behalten zu dürfen.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Ähnlich gebannt, wenn auch mit Konzentrations­schwierigkeiten nach einer Flugzeit von 17 Stunden und vom Jetlag geplättet, starre ich an einem Dienstag­nachmittag auf dem Flughafen der nordaustralischen Stadt Darwin auf das Gepäckband. Zwischen Koffern, Taschen und verschnürten Kartons versuche ich, meinen verbeulten Rimowa zu erspähen. Mein Koffer ist immer einer der letzten, die das Schattenreich der Gepäckabfertigung freigibt.

Doch dieses Mal nicht, auch nach gut einer Stunde verdichtet sich bei uns, einer kleinen Gruppe, die Befürchtung zur Gewissheit, die erste Nacht in Darwin wohl ohne Gepäck zubringen zu müssen. Eine Art Trance, gespeist aus Müdigkeit und Jetlag – oder wirkt hier schon die sprichwörtliche australische Gelassenheit? Jedenfalls bleibe ich gelassen, auch, als die Dame von der Gepäckermittlung entschuldigend ankündigt, wir würden die Koffer wohl auch morgen nicht bekommen – aber garantiert tags darauf, weil erst dann die nächste Maschine der Airline aus Singapur erwartet wird.

„Survival-Package“ mit Flipflops

Kurze Inventur: Eine lange Hose an, ein langarmiges Shirt, im Handgepäck noch ein T‑Shirt, eine elektrische Zahnbürste (ohne Ladestation!), Kopfhörer, ein Buch. Es ist 16.30 Uhr, da haben wir die Einreiseformalitäten endlich hinter uns gebracht und werden von Alice empfangen, die unsere kleine Gruppe als Mitarbeiterin vom Tourismboard der australischen Provinz Northern Territory fortan begleitet.

Weil die Läden schon um 17 Uhr schließen, lässt Alice von einem Kollegen für den gepäcklosen Teil der Gruppe ein kleines „Survival-Package“ einkaufen: Flipflops, T‑Shirt, ein kurzärmliges Hemd, Shorts et cetera und – ganz wichtig! – einen Hut als Sonnenschutz.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige
Flugausfälle und Verspätungen: Welche Rechte haben Flugreisende?

Die Lufthansa wird erneut von ihren Beschäftigten bestreikt. Für Flugreisende bedeutet das: Der Flieger bleibt womöglich am Boden.

Am nächsten Morgen, einem Mittwoch, kurz bevor wir mit einem Kleinflugzeug die nördlich von Darwin gelegenen Tiwi-Inseln anfliegen, erfahren wir, dass sich das Versprechen, wir würden am Donnerstag das Gepäck bekommen, wohl nicht halten lässt – weil sich das Gepäck nicht auf die Insel transportieren lässt. Das verstehen wir. Aber am Samstag, dann seien wir ja wieder auf dem Festland, das wäre alles „safe“.

Das australische Wetter und der legere Dresscode ermöglichen es, mit zwei T‑Shirts, einem kurzärmligen Hemd und abwechselnd Schwimmshorts und Shorts tragend über die Runden zu kommen. Die regelmäßig mit Seife und Shampoo gewaschenen Klamotten trocknen bei den Temperaturen in einem Affenzahn. Es gibt Neuigkeiten: Nicht wie versprochen am Samstag, sondern am Sonntag sollen die Koffer gebracht werden – „definitely“, wie es jetzt heißt.

Das gilt dann auch bis zum Sonntagmorgen, an dem wir informiert werden, dass sich kein Mitarbeiter und keine Mitarbeiterin zu dieser zusätzlichen Leistung am arbeitsfreien Tag überreden ließe, wie uns Alice resignierend gesteht.

Übergabe in der Lodge

Große Erleichterung, als mir am Montag tatsächlich der Koffer übergeben werden soll. In der Cooinda-Lodge im Kakadu-Nationalpark, dem letzten Stopp im australischen Outback, erhalte ich ein schwarzes Gepäckstück mit einer Markierung von Air France, das allerdings weder in der beschriebenen Farbe noch in der Form meinem Koffer ähnelt. Am Etikett lese ich, dass eine Sylvie aus Straßburg wohl jetzt ihren Koffer vermisst, der irrtümlich hier nahe der Kleinstadt Katherine gestrandet ist.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Den Rest des Tages verbringe ich mal wieder mit dem Waschen meines minimalen Kleidungsbesitzes, schließlich muss ich noch zwei Tage überbrücken – wenn es ganz schlecht läuft. Immerhin. Die elektrische Zahnbürste arbeitet ohne Ladestadion schon den sechsten Tag.

Wiedersehen in Darwin: Nach gepäcklosen acht Tagen bekomme ich kurz vor dem Rückflug auf dem Flughafen meinen Koffer zurück. Was ich da noch nicht weiß: In Frankfurt wird der Koffer wieder verschwunden sein.

Wiedersehen in Darwin: Nach gepäcklosen acht Tagen bekomme ich kurz vor dem Rückflug auf dem Flughafen meinen Koffer zurück. Was ich da noch nicht weiß: In Frankfurt wird der Koffer wieder verschwunden sein.

Nach acht Tagen im australischen Outback kommt es vor dem Rückflug auf dem australischen Flughafen Darwin tatsächlich zu einem kurzen, intensiven Wiedersehen mit dem Koffer – um im Vorgefühl des Frankfurter Wetters in europäische Allwetterkleidung zu schlüpfen und das Gepäck dann wieder in die Obhut der Airport-Logistik zu überantworten, versehen mit einem roten Priority-Label.

Jetzt sind wir ja Priority

Die Geschichte könnte hier enden, tut sie aber nicht. Knapp 20 Stunden später auf dem Flughafen Frankfurt, mal wieder stehe ich müde am Gepäckband, auf dem Koffer, Kisten, Reisetaschen vorbeiziehen. „Cool bleiben, mein Koffer ist immer der letzte“, flüstere ich meinen Mitreisenden zu. Jetzt können wir darüber lachen, ist ja vorbei, das passiert nur einmal, jetzt sind wir ja Priority.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Die Reihen der Wartenden lichten sich, am Ende bleibt ein verzweifeltes Häuflein stehen, schaut auf das Band, das sich irgendwann nicht mehr bewegt. Ich bin wieder dabei.

Die gestresste Person an der Gepäckermittlung klärt mich auf, mein Koffer sei vermutlich wegen einer in Darwin falsch angegebenen Endziffer zum Fernbahnhof des Flughafens geleitet worden. Bis dahin sind es nur 15 Minuten zu Fuß. Den nahenden Abfahrtstermin meines Zuges vor Augen laufe ich zum Fernbahnhof, ohne Jacke, die ist ja im Koffer. „Der Koffer ist hier nicht“, sagt man mir dort. „Gehen Sie zurück zum Flughafen, Terminal B, er wird dort an Gepäckband 16 auftauchen.“

Ich gehe ein letztes Mal zur Gepäckermittlung und teile mit, dass mir der Koffer sch…egal ist und ich jetzt das Formular für verlorene Gegenstände ausfülle – „und zwar binnen zehn Minuten, denn dann sitze ich im Zug“.

Während ich etwas später im ICE 614 nach Hamburg bei einem Kaffee und einem Croissant sitze, deutsche Herbstlandschaften an mir vorbeifliegen, spüre ich Angst: Angst vor dieser Welt – in der Koffer von falschen Zahlenkombinationen fehlgeleitet werden, in der Algorithmen die Macht übernehmen und Menschen nur noch ohnmächtig zusehen können.

Wochen sind ins Land gegangen, ausgefüllt von vielen Telefonaten, Mails, auf Suchseiten sinnlos eingegebenen Tracknummern. Und dann bringt mir ein DHL-Mitarbeiter meinen Koffer zurück – 28 Tage nach meiner Rückkehr.

Anzeige
Anzeige
Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Outbrain UK Ltd, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

 

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzhinweisen.

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken