Roboter am OP-Tisch: UKSH Kiel will „Weltneuheit“ entwickeln
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Robotergestützte Operation mit dem "da Vinci-System": Im Bild arbeiten OP-Schwester Marion Heupke, die Auszubildende zur Operationstechnischen Assistentin Viktoria Ginc und die Chirurgisch-Technische Assistentin Marianne Müller (v.l.) am OP-Tisch.
© Quelle: Ulf Dahl
Kiel. Eine Geschichte über den modernen OP – sie kann mit den vier grauen Roboterarmen beginnen, die sich über der Patientin auf dem OP-Tisch bewegen. Mit einem heruntergedimmten Saal voller Monitore und grün blinkender Lichter, steriler Instrumente und teurer High-Tech-Geräte.
Aber hier beginnt sie in einer Ecke, abseits vom OP-Tisch, im Saal hinten links – mit gelben Socken. Den Socken von Oberarzt Claudius Hamann (41). Seine Füße ruhen, ohne die typischen Klinik-Gummi-Clogs, auf dem Boden. Es sieht fast ein wenig gemütlich aus. Die gelben Socken also, sie mögen ein belangloses Detail sein. Und doch wirken sie wie ein Gegenpol in dieser kühl-aseptischen, maschinengestützten Operationsszene.
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Chirurg und UKSH-Oberarzt Claudius Hamann (41) an der Konsole des Roboter-Assistenzsystems da Vinci. Im Hintergrund befindet sich der OP-Tisch. Hamann operiert eine Patientin, ohne sie selbst zu berühren. Darum benötigt er keine Handschuhe. Mit seinen Füßen kann er zusätzlich Pedale am Boden bedienen.
© Quelle: Ulf Dahl
Sie stehen für den menschlichen Einfluss und die ärztliche Steuerung, welche im Operationssaal weiterhin die tragende Rolle spielen wird. Doch schon hier, in Kiel, im Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), lässt sich der OP der Zukunft erahnen. Die Vision: Patienten, die wie in einer sterilen Blase auf dem OP-Tisch ferngesteuert operiert werden, ohne Berührung des Teams.
Im UKSH in Kiel könnten zukünftig Patienten ohne menschliche Berührung operiert werden
Eine Vorstellung, die Unbehagen auslösen kann, aber die manche Mediziner, auch in der Landeshauptstadt, geradezu schwärmen lässt – und für deren praktische Umsetzung die EU die Geldspritze herausholt. Millionen Euros für die Hoffnung, Patienten zukünftig schonender, komplikationsloser und präziser operieren zu können.
Patienten wie die krebskranke, betagte Dame auf dem Kieler OP-Tisch. Sie hat dem robotergestützten Eingriff an ihrer Blase zugestimmt. Das Team um Oberarzt Hamann wird das Organ an diesem Vormittag entfernen – die Assistenten am Tisch, er selbst an seiner grauen Steuerungs-Einheit. Hamann sitzt, in grüner OP-Kluft und in diesen leuchtend gelben Socken, vor einer bauchigen Konsole mit Einbuchtung in der Mitte. Dort ruht sein Kopf. Seine Augen richtet der Chirurg durch ein Binokular, ähnlich einem Feldstecher, auf ein Bild. Es zeigt die dreidimensionale Darstellung der Blase seiner Patientin, bis zu zehnfach vergrößert, und die Instrumente, welche gerade weiße Clips an Gefäßen anbringen.
Robotersystem da Vinci seit 2013 in Kiel im Einsatz
Diese Instrumente stecken in den Roboterarmen des Assistenzsystems da Vinci. Ohne Zittern, millimeterfein, führen sie die Vorgaben von Claudius Hamann in seinem „Cockpit“ aus, übersetzen seine Handbewegungen auf das Operationsgebiet. Hamann ist einer von rund 15 UKSH-Chirurgen in Kiel, welche diese vierarmige Maschine bedienen können. Seit 2013 ist sie in Kiel etwa 4000 Mal zum Einsatz gekommen, besonders oft bei urologischen Eingriffen, über kleine Schnitte im Bauchraum, minimalinvasiv nennen Fachleute das.
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Prof. Dr. Klaus-Peter Jünemann ist Direktor der Klinik für Urologie und Kinderurologie am UKSH in Kiel. Er will die Robotik in der Medizin vorantreiben.
© Quelle: Ulf Dahl
Glaubt man dem Direktor der Klinik für Urologie und Kinderurologie am UKSH, Prof. Dr. Klaus-Peter Jünemann, dann ist die Robotik eine der wichtigsten Säulen im OP der Zukunft. Er will diese Technologie in Kiel ganz nach vorn bringen.
Die Richtung ist klar: Noch mehr Robotik. Noch weniger offene Eingriffe. Jünemann sagt: „Ziel ist es, dass im OP der Zukunft keiner mehr am Patienten steht.“ Auch aus Infektionsschutzgründen, gerade wegen der Corona-Pandemie. Denn Wundinfektionen, referiert Jünemann, kämen bei Eingriffen mit Robotik nur in 0,5 Prozent der Fälle vor, bei konventioneller Methode liege die Rate bei 8 bis 9 Prozent: „Das ist besser als jedes Antibiotikum.“
EU: 3,4 Millionen Euro für Weiterentwicklung von Robotik, KI und Augmented Reality in Kiel
Für die Verwirklichung der Vision wurde rund um Jünemann, auch Sprecher des interdisziplinären Kurt-Semm-Zentrums am UKSH, das Projekt „OP der Zukunft“ initiiert. Es hat öffentliche Geldgeber überzeugt: 3,4 Millionen Euro EU-Mittel stehen bereit, um den Einsatz von Robotersystemen, aber auch Künstlicher Intelligenz und Augmented Reality in Kiel auszubauen.
Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) überreichte am Donnerstag im Kieler Wissenschaftszentrum den Fördergeldbescheid. „Fördergelder für die medizinische Forschung sind Investitionen für eine bessere Gesundheit und für mehr Lebensqualität“, sagte Günther. Der ,OP der Zukunft‘ sei ein echtes Vorzeigeprojekt und werde dazu beitragen, Schleswig-Holstein als innovativen Standort in der High-Tech-Medizin weiter zu etablieren und Patienten noch besser zu helfen.
Zum einen ist geplant, eine sogenannte Augmented Reality-Lösung für eine noch zielgenauere und schonendere Tumorchirurgie zu erarbeiten. Zum anderem geht es in dem Projekt um die Entwicklung eines Prototypen für einen „Co-Bot“, eines Robotersystems auch für die OP-Assistenten.
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Robotergestützte Operation mit dem "da Vinci-System" in der Urologie im UKSH. Im OP der Gegenwart arbeitet das Assistenzteam noch am OP-Tisch.
© Quelle: Ulf Dahl
Denn im OP der Gegenwart hantieren OP-Schwester und Assistenten noch direkt an der Patientin am Tisch. Sie sitzen inmitten der steril in Folie verpackten da Vinci-Arme, die eher wie Unterschenkel mit Füßen aussehen – und kommunizieren mit dem Operateur über Mikrofone. Schließlich kann Hamann sein Team in der Ecke weder sehen noch hören, wenn er die Roboterarme steuert.
Bei der Operation mit dem da Vinci-System bleiben die Hände des Chirurgen sauber. Er trägt nicht einmal Handschuhe. Claudius Hamanns Hände stecken in zwei Handgriffen unter der da Vinci-Konsole. In Echtzeit kann er mit fließenden Bewegungen auf diese Weise die Roboter-Instrumente im Unterleib seiner Patientin dirigieren.
Kieler Chirurg: Operieren mit Hilfe vom Roboter so routiniert wie „Brezelbacken“
Mit zwei Pedalen am Boden kann der 41-Jährige dem System weitere Befehle erteilen, etwa Kameras steuern oder Strom fließen lassen. Inmitten dieser schon jetzt futuristisch wirkenden OP-Szenerie sagt Operateur Hamann in seiner „Dunkelkammer“ etwas, das sehr bodenständig klingt. Diese etablierte Methode sei inzwischen so sehr Routine, dass das robotergestützte Operieren für ihn „wie Brezelbacken“ sei. Schließlich würden inzwischen mehr als 90 Prozent der urologischen Eingriffe in Kiel so vorgenommen.
Roboter in der Kieler UKSH-Chirurgie: Zahlen und Fakten
Nach Angaben des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) wurden am Standort Kiel seit der Einführung des US-amerikanischen Roboterassistenz-Systems da Vinci im Jahr 2013 rund 4000 Eingriffe vorgenommen. Rund 15 Chirurgen aus unterschiedlichen Disziplinen sind damit vertraut. Eingesetzt werden sie demnach in der Thoraxchirurgie, Viszeralchirurgie, Gynäkologie, Urologie, Mund-,Kiefer-,Gesichtschirurgie, Gefäßchirurgie und Kinderchirurgie. In der Urologie in Kiel werden 95 Prozent aller bauchchirurgischen und urologischen Eingriffe roboterassistiert durchgeführt. Dank Drittmittelförderung durch die Damp-Stiftung, die UKSH-Förderstiftung und entsprechende DFG-Anträge sind demnach bisher kaum direkte Kosten für die Anschaffung der teuren Systeme für das UKSH angefallen. Natürlich müssten die laufenden Kosten für die Wartung (pro System, in Kiel gibt es drei im klinischen Einsatz, drei für Ausbildungszwecke, rund 150.000 im Jahr) sowie die Instrumentenkosten seitens des UKSH getragen werden. Die Mehrkosten bei adäquat hohem Durchsatz an Patienten liegen laut Uniklinik bei 1500 bis 1700 Euro im Vergleich zu einer konventionell durchgeführten Operation. Insgesamt lässt sich nach Angaben von Professor Dr. Klaus-Peter Jünemann im Vergleich zeigen, „dass durch den Einsatz eines Robotersystems die Komplikationsraten gegenüber der offenen Chirurgie um 40 bis 50 Prozent gesenkt werden konnten“. Und: „Roboter-assistierte Chirurgie mit direkter Todesfolge hat es Gott sei Dank am UKSH bisher nicht gegeben.“
Und nun der nächste Schritt in Richtung OP der Zukunft: Nicht nur der Chirurg, auch das Assistenzteam soll über Roboterarme verfügen. „Das wäre eine Weltneuheit“, betont Prof. Klaus-Peter Jünemann.
Beteiligt an dem Projekt sind das Kurt-Semm-Zentrum und die Klinik für Nuklearmedizin des UKSH, die Technische Fakultät der Christian-Albrechts-Universität Kiel sowie die Unternehmen Vater Solutions GmbH, MiE Medical Imaging Electronics GmbH und Kiel Scientific GmbH.
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Nur 1,5 Jahre, um den Prototypen zu entwicklen
Für die Entwicklung eines Prototypen, der dann auch am Modell getestet wird, habe man nur 1,5 Jahre Zeit, erklärt Jünemann, „wir müssen Gas geben“. Aber alle seien hoch motiviert. Kernaufgabe: Eine Sensorik zu erarbeiten, welche das kollisionsfreie Steuern aller Roboterarme am Tisch ermöglicht.
Die Kooperation solle der Grundstein für eine Forschungs-Plattform für roboter-assistierte Chirurgie sein, so Jünemann. Schleswig-Holstein – langfristig soll das Land als führender Standort in der High-Tech-Medizin etabliert werden.
Und während Claudius Hamanns Team im OP die Blase der Krebs-Patientin für die Trennung von umgebendem Gewebe vorbereitet, wagt er an seiner Konsole eine Prognose: „Wir können uns gar nicht vorstellen, was in der Medizin in den nächsten 30 Jahren passieren wird. Irgendwann läuft es ganz automatisiert, unter chirurgischer Aufsicht. Aber das ist Zukunftsmusik.“