Rettig als Bierhoff-Nachfolger: Der DFB traut sich was
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Andreas Rettig übernimmt beim DFB den Posten des Sport-Geschäftsführers.
© Quelle: Christian Charisius/dpa
Es ist ein paar Jahre her, da charakterisierte Rudi Völler, damals Sportchef bei Bayer Leverkusen, den damaligen Geschäftsführer des FC St. Pauli, Andreas Rettig, scherzhaft – wie er später nachschob – als „Schweinchen Schlau“. Rettig hatte sich in der Debatte um die Verteilung der Fernsehgelder – wie es seine Art ist – auf die Seite der kleineren Klubs geschlagen, die keine Ausnahmegenehmigung zur Umgehung der 50+1-Regel besitzen. Völler wehrte sich dagegen als Vertreter eines dieser von der heiligen deutschen Fußballregel ausgenommenen Bundesligisten.
Was damals - und bis Freitag Vormittag - wohl niemand geahnt hätte: Rettig ist als neuer DFB-Geschäftsführer nicht nur Nachfolger für einen Teil der Aufgaben des am Ende nicht unbedingt mit Glanz und Gloria beim DFB verabschiedeten, zu mächtig gewordenen Oliver Bierhoff, sondern zudem offiziell nun sogar Vorgesetzter von Interims-Bundestrainer und -Sportdirektor Völler. „Schweinchen Schlau“ und „Tante Käthe“ müssen jetzt also für den deutschen Fußball an einem Strang ziehen.
Allein diese Konstellation zeigt, dass sich der DFB bei der Personalie Rettig einiges traut. Denn der 60‑Jährige eckt auf seinem Feldzug für einen im Robin-Hood-Sinne gerechteren Fußball gern mal an. Manchmal derart, dass er sich von einem der Meinungsbildner des deutschen Fußballs, der urgewaltigen FC-Bayern-Institution Uli Hoeneß, mal als „König der Scheinheiligen“ tituliert wurde.
Der DFB traut sich auch deswegen etwas, weil die Entscheidung für Rettig, einen Vertreter der heutzutage gern kritisch beäugten „alten, weißen Männer“, vollkommen gegen den Strich gebürstet wirkt. Egal, ob er nun die A-, B-, C- oder gar nur die ultimative Notlösung ist. Rufen wir uns doch nur mal in Erinnerung, dass lange die frühere Weltfußballerin Nadine Keßler, 35 Jahre alt, als Favoritin für den Job galt. Welch Gegensatz bildet da nun Rettig. Nur: Über die Eignung für den Job sagen Äußerlichkeiten und Biografie-Unterschiede erst mal gar nichts aus.
Hippe Botschaften wie unter Bierhoff sind von Rettig nicht zu erwarten
Und möglicherweise ist Rettig sogar genau der Richtige, um die mittlerweile unter dem Marketing-Überfluss der Bierhoff-Jahre leidende Männer-Nationalmannschaft wieder beliebter zu machen, sowohl Frauen als auch Männer aus ihrem epischen Tief zu verhelfen und dem Nachwuchs die jüngst angestoßenen, dringend benötigten Reformen in der Ausbildung nahezubringen. Hippe Botschaften wie vor wenigen Jahren das alberne #ZSMMN (zusammen) sind von ihm schon mal nicht zu erwarten.
Es ist zudem wahrscheinlich, dass Rettig nach fast vier Jahrzehnten im Fußballgeschäft auch weiterhin kein Problem damit hat, anzuecken und Entscheidungen zu treffen, die anderen Entscheidungsträgern missfallen. Wer soll ihm seine Lebensleistung noch streitig machen? Was hat er zu verlieren bei einer Institution, die eh bereits am Boden liegt? Im besten Fall leitet Rettig, der natürlich nicht für die langfristige Zukunft des deutschen Fußballs steht, die unbedingt notwendigen Veränderungen ein, begleitet sie kritisch und übergibt in wenigen Jahren an jemanden, der oder die den Verband dann wirklich in die Zukunft führt.
Wenn es stimmt, das Reibung Energie erzeugt, könnte sich diese Personalentscheidung für den angeschlagenen DFB auszahlen auf dem Weg zur Heim-Europameisterschaft im nächsten Jahr. Erstaunlich ist: Der größte Sportverband der Welt kann noch überraschen, selbst bei vermeintlichen Notlösungen. Lassen wir Rettig also erst mal machen.