Olympia-Attentat 1972: Der schwarze Tag von München
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Vor 50 Jahren: Ein vermummter arabischer Terrorist zeigt sich auf dem Balkon des israelischen Mannschaftsquartiers im Olympischen Dorf der Sommerspiele.
© Quelle: dpa
Der Zaun um das Olympiagelände stellt kein Hindernis für die Attentäter dar. Kurz vor Sonnenaufgang am 5. September 1972 klettern sie über die zwei Meter hohe Umgrenzung, acht Männer mit Sporttaschen. Sie werden von vorbeifahrenden Postbeamten beobachtet, doch keiner denkt sich etwas dabei. Immer wieder klettern Athleten über den Zaun, nehmen hier eine Abkürzung, wenn sie aus der Stadt zurück ins Dorf kommen. Bewacht ist das Olympiagelände ohnehin nicht. Schließlich feiern sie hier in München die heiteren, die unbeschwerten Spiele.
Schnell gelangen die acht zum Haus Connollystraße 31, hier wohnen Olympioniken aus Uruguay, Hongkong – und 21 Mitglieder der israelischen Mannschaft in den Apartments mit den Nummern eins bis sechs. Issa, der Anführer des Terrorkommandos, und sein Stellvertreter Tony rütteln an der Haustür. Sie ist unverschlossen.
Aus ihren Sporttaschen holen die Terroristen Kalaschnikows und Handgranaten. Sechs von ihnen stürmen in den ersten Stock. Issa klingelt an der Tür von Apartment Nummer eins. Er weckt den Ringer Yossef Gutfreund, der öffnet die Tür, sieht die Waffen, stemmt sich gegen den Türrahmen und brüllt das ganze Haus zusammen, um seine Mannschaftskameraden zu warnen. Die Angreifer gelangen dennoch in die Wohnung. Der Ringertrainer Moshe Weinberg und der Gewichtheber Yossef Romano stürmen ihnen entgegen. Die Terroristen feuern, Weinberg ist sofort tot, Romano verblutet qualvoll in den kommenden Stunden.
Das Fiasko von Fürstenfeldbruck
Der Überfall des palästinensischen Terrorkommandos auf die israelische Olympiamannschaft zerstörte die naive Hoffnung, dass globale Krisen und Gewalt einen Bogen um die Münchner Spiele machen würden. Die Geiselnahme im olympischen Dorf deckte nicht nur jäh die Schwachstellen des Sicherheitskonzepts der bayerischen Behörden auf. Der hilflose, chaotische Umgang mit den Forderungen der Geiselnehmer mündete im tödlichen Fiasko von Fürstenfeldbruck, wo alle Geiseln, fünf der acht Geiselnehmer sowie ein Polizist ums Leben kamen.
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Auf dem Militärflughafen Fürstenfeldbruck steht am 6. September 1972 das Wrack eines Hubschraubers vom Bundesgrenzschutz. Bei dem Olympiaattentat 1972 in München haben die Sicherheitsbehörden zahlreiche Fehler begangen.
© Quelle: dpa
Doch die Schande war mit Fürstenfeldbruck noch nicht beendet: Die Behörden versuchten offensichtlich, das Ausmaß des Fiaskos zu vertuschen, berichtet ein damals beteiligter Polizeibeamter. Damit nicht genug: Die drei überlebenden Geiselnehmer wurden nur wenige Wochen später durch die Entführung des Lufthansa-Flugzeugs freigepresst und reisten nach Libyen aus – jetzt wollen Hinterbliebene der israelischen Opfer ein Dokument gefunden haben, das einen „dreckigen Deal“ der Bundesregierung mit Palästinenserorganisationen beweisen soll.
Am 5. September um 4.44 Uhr erreicht der erste Notruf die Polizei ein. Kurze Zeit später, die Sonne ging gerade auf, klopfte es auch an der Tür des Quartiers der DDR-Olympioniken direkt gegenüber der Connollystraße 31. Der Fußballspieler Harald Irmscher aus Jena erinnert sich: „Man teilte uns sehr höflich mit, dass etwas passiert sei und wir nicht auf den Balkon zu gehen haben.“
Neugierig schleicht er sich erst recht auf den Balkon. Was dort drüben geschieht, erschließt sich ihm nicht sofort. Er sieht Personen vor dem Gebäude, „ein beige gekleideter Mann mit Hut“ steht dort, andere reden auf ihn ein. Der Mann mit Hut ist Issa. Irmscher bemerkt einen Sichtschutz, dahinter liegt mutmaßlich die Leiche von Moshe Weinberg, die Terroristen haben sie vors Haus getragen, Sanitäter holen den Körper später ab. Irmscher sieht weitere Terroristen, einen mit einer Maschinenpistole und einen am Fenster im ersten Stock. Der macht Handbewegungen, bedeutet, dass die Schaulustigen verschwinden sollen.
50 Jahre Münchner Olympia-Attentat
Am 05. September 1972 überfielen 8 palästinensische Terroristen die israelische Olympiamannschaft. Die Aktion endete in einer Tragödie.
© Quelle: RND
Fußballer Harald Irmscher: „Natürlich hast du Angst gehabt“
Nicht nur Irmscher hat sich auf den Balkon gewagt. Er hat sogar eine Kamera dabei, robbt sich ganz nach vorn auf dem Balkon, schiebt die Kamera unter den Blumenkästen hindurch und schießt Fotos. „Natürlich hast du Angst gehabt“, erinnert er sich. „Als der am Fenster stand und uns bedeutete: Verschwindet, das geht euch nichts an! Das haben wir dann auch kurz gemacht, sind dann aber wieder hin und haben wieder geguckt.“
Um 6.30 Uhr werden die DDR-Athleten durch den Hinterausgang zum Frühstück geführt. Was im Haus gegenüber passiert, erfahren sie bald aus dem Fernsehen. Nicht nur deutschen Sender übertragen, der US-Kanal ABC hat sich gegenüber im italienischen Mannschaftsquartier eingerichtet und sendet live.
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Der Fußballer Harald Irmscher, der in der Mannschaft der DDR bei Olympia 1972 antrat, machte während des Attentats heimlich Fotos.
© Quelle: Harald Irmscher
Die Terroristen stellen ihre Bedingungen: 234 in Israel gefangene Palästinenser sollen freigelassen werden, auf der Liste stehen zudem ein japanischer Terrorist und die deutschen RAF-Mitglieder Andreas Baader und Ulrike Meinhof. Meinhof feierte später die Aktion des Schwarzen Septembers als „gleichzeitig antiimperialistisch, antifaschistisch und internationalistisch“. Das erste Ultimatum gilt bis 9 Uhr morgens, es wird immer wieder verlängert werden, auf 12, 13, 15, 17 Uhr, dann auf 21 Uhr abends.
Die DDR spielt am Tag des Attentats gegen Mexiko
Harald Irmscher und die DDR-Fußballmannschaft bekommen davon nichts mehr mit: Das Team sitzt im Mannschaftsbus nach Ingolstadt. In der Zwischenrunde des olympischen Fußballturniers gewinnt die DDR mit 7:0 gegen Mexiko und steht im Spiel um die Bronzemedaille. Irmscher sitzt auf der Bank. An den Zwischenfall im Quartier denkt in Ingolstadt keiner – auch die Organisatoren nicht. Als das Spiel um 16.30 Uhr angepfiffen wird, hat in München IOC-Präsident Avery Brundage bereits die Spiele unterbrochen. „Der olympische Friede ist durch einen Mordanschlag verbrecherischer Terroristen gebrochen worden“, teilte das IOC mit.
Doch die Unterbrechung währt nur kurz, auch nach dem Fiasko von Fürstenfeldbruck. „The games must go on“, die Spiele müssen weitergehen, sagt Brundage bald danach. Würden die weiteren Wettkämpfe abgesagt, sei das genau das, was die Terroristen wollten. Direkt nach der Trauerfeier im Olympiastadion wurde der Rasen wieder bereit gemacht für die nächsten Wettbewerbe.
Nach der Schlusszeremonie am 11. September verabschiedet sich der ARD-Olympiakommentator mit den Worten: „Es waren die schönsten Olympischen Spiele, die je kaputtgemacht wurden.“
Am Nachmittag des 5. September geht der Nervenkrieg rund um die Connollystraße 31 weiter. Gegen 17 Uhr fordern die Geiselnehmer, mitsamt ihren Geiseln nach Kairo geflogen zu werden. Dort wollen sie die israelischen Olympioniken im Austausch gegen die freigepressten Gefangenen gehen lassen. Bundeskanzler Willy Brandt versucht, in Kairo Staatspräsident Anwar el-Sadat zu erreichen. Das Gespräch kommt nicht zustande. Ministerpräsident Asis Sidki lehnt kurz vor Ablauf des Ultimatums eine Landung in Kairo kategorisch ab.
Den Terroristen teilen die deutschen Verhandler diese Wendung nicht mit. Der Plan ist zuletzt, die Geiselnehmer in Sicherheit zu wiegen, sie mitsamt den Geiseln in zwei Hubschraubern zum Flugplatz Fürstenfeldbruck zu bringen und dort in einem Hinterhalt die Geiseln zu befreien. Der Plan sollte auch deswegen zum Fiasko werden, weil der bayerischen Polizei keine ausgebildeten Scharfschützen zur Verfügung standen. Bundesnachrichtendienst und der israelische Mossad, die Kräfte in Bereitschaft hielten, durften nicht eingreifen.
Für einen Zugriff auf schwerbewaffnete Terroristen ist keiner von den Polizisten ausgebildet.
Auf dem Flugfeld steht eine Boeing 727 der Lufthansa, darin zwölf als Crew verkleidete Polizisten. Noch bevor die Terroristen eintreffen, brechen die getarnten Beamten die Aktion ab. Sie befürchten, hier in ein Himmelfahrtskommando geschickt zu werden. Für einen Zugriff auf schwerbewaffnete Terroristen in einer Flugzeugkabine ist keiner von ihnen ausgebildet.
Jetzt kommt alles auf die fünf Schützen an, die in Position liegen. Ausgebildete Präzisionsschützen sind sie alle nicht, sondern ganz normale Polizeibeamte.
Acht Geiselnehmer und neun Geiseln setzen um 22.35 Uhr mit den beiden Hubschraubern in Fürstenfeldbruck auf. Die Geiselnehmer Issa und Tony springen aus den Helikoptern und laufen zur Lufthansa-Maschine. Schnell merken sie, dass keine Besatzung an Bord ist und wissen, was das bedeutet. Sie sitzen in der Falle.
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Polizisten im Olympischen Dorf: Die Olympischen Spiele in München 1972 waren überschattet von einem Anschlag von Terroristen des Schwarzen September auf die israelische Mannschaft.
© Quelle: Imago
Die beiden rennen zurück Richtung Hubschrauber. Die drei Scharfschützen auf dem Dach des Flughafengebäudes feuern. Es ist der Beginn eines gut zweistündigen Gefechts, an dessen Ende alle Geiseln und fünf der acht Terroristen tot sind, ebenso der Polizeibeamte Anton Fliegerbauer. Zwei weitere Polizisten und ein Hubschrauberpilot sind verletzt.
Bis heute ist nicht restlos geklärt, durch wessen Schüsse die Menschen auf dem Flugfeld genau ums Leben gekommen sind. Roman Deininger und Uwe Ritzer schreiben in ihrem Buch „Die Spiele des Jahrhunderts“, einer der Terroristen habe mit seiner Kalaschnikow auf fünf Geiseln gefeuert, die gefesselt und wehrlos in einem der Hubschrauber saßen. Ein weiterer habe eine Handgranate in den zweiten Helikopter geworfen, dieser sei ausgebrannt.
Doch es bleiben Fragen. Der Ex-Polizist und zeitweilige Grünen-Bundestagsabgeordnete Manfred Such stellt sie seit Jahren. Er war als junger Kriminalobermeister in der Kommissarsausbildung beim Polizeipräsidium Bochum zu den Olympischen Spielen nach München abgeordnet und nahm zwecks Spurensicherung an der Obduktion der Leichen teil.
Such, der heute in Dänemark lebt, kritisiert im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND): „Die Projektile wurden den Waffen, die in Fürstenfeldbruck eingesetzt wurden, nach Vorgaben des Schusswaffenerkennungsdienstes, nicht zugeordnet. Das hätte aber geschehen müssen, wenn kriminalistisch und rechtsstaatlich korrekt ermittelt worden wäre.“
Vertuschten die Behörden etwas?
Er vermutet bis heute, „dass die bayerischen Behörden etwas vertuschen wollten“. Denn: „Wären alle Fakten bekannt geworden, hätte es höchstwahrscheinlich Rücktritte vom Einsatzleiter über den Polizeipräsidenten bis zum Innenminister geben müssen.“ Such berichtet von den ungewöhnlichen Umständen seines Einsatzes: „Die Obduktion fand vermutlich nicht in einem Gebäude des gerichtsmedizinischen Instituts Münchens, sondern in einem Gebäude statt, das an eine Gründerzeitvilla erinnerte. Einige der zu obduzierenden Leichen lagen auf dem Boden im Eingangsbereich des Gebäudes. Warum auswärtige Beamte eingesetzt wurden, erschließt sich mir nicht.“
Die Obduktion habe mit der Leiche des Polizeihauptmeisters Fliegerbauer begonnen. „Daraus wurde mir ein Projektil, Kaliber neun Millimeter, übergeben. Mir wurden ausschließlich Neun-Millimeter-Projektile übergeben. Ich hatte all diese Projektile in der Hand.“
Die Terroristen seien aber angeblich ausschließlich mit Kalaschnikows bewaffnet gewesen. Diese haben das Kaliber 7,62 Millimeter. Polizeipistolen haben unter anderem das Kaliber neun Millimeter, ebenso die damals von der Polizei verwendete Maschinenpistole Beretta.
„Die Neun-Millimeter-Projektile dürften mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus Maschinenpistolen des Typs Beretta verfeuert worden sein“, schließt Such.
Drei Terroristen haben das Feuergefecht überlebt, sie sitzen in Untersuchungshaft. Doch zum Prozess kommt es nie. Wieder spielt eine Boeing 727 der Lufthansa eine wichtige Rolle. Die Maschine mit dem Taufnamen „Kiel“ startet am 29. Oktober 1972 in der syrischen Hauptstadt Damaskus, über Beirut, Ankara und München soll der Flug nach Frankfurt am Main gehen. 13 Passagiere sind an Bord, als zwei palästinensische Terroristen aufspringen und drohen, das Flugzeug in die Luft zu sprengen. In der First Class ist Sprengstoff deponiert. Die Entführer fordern die Freilassung der drei überlebenden Olympiaattentäter von München.
Die drei Attentäter kommen nach nur 54 Tagen Haft frei
Nach langem Nervenkrieg geben die deutschen Behörden nach. Die drei Attentäter kommen nach nur 54 Tagen Haft frei und werden ins libysche Tripolis ausgeflogen. Ihre Ankunft gleicht einem Triumph.
War die Entführung der „Kiel“ nur eine Farce? Schnell machen Gerüchte über einen Deal zwischen der Bundesregierung und den Palästinensern die Runde. Selbst Ulrich Wegener, der Gründer der GSG 9, sagt viel später in einer Fernsehdoku, die Dealthese sei „wahrscheinlich wahr“.
50 Jahre später fragen auch die Hinterbliebenen Ankie Spitzer und Ilana Romano in einem Brief an Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, was Deutschland eigentlich noch zu verbergen habe, wenn immer noch nicht alle Archive geöffnet seien. Es ist eine Frage, auf deren Beantwortung nicht nur die Angehörigen der Opfer mit Spannung warten.