Nationaler Volkskongress

„Rund 5 Prozent“: China gibt niedrigstes Wachstumsziel seit Jahrzehnten aus

Li Keqiang, Ministerpräsident von China, spricht während der Eröffnungssitzung des Nationalen Volkskongresses (NVK) in der Großen Halle des Volkes.

Li Keqiang, Ministerpräsident von China, spricht während der Eröffnungssitzung des Nationalen Volkskongresses (NVK) in der Großen Halle des Volkes.

Wenn man Chinas Nationalen Volkskongress als politisches Theater begreift, dann ist der vom Premier vorgelegte Arbeitsbericht eine mit Spannung erwartete Exposition. Während seines einstündigen Vortrags am Sonntagmorgen (Ortszeit) hat Li Keqiang vor knapp 3000 Abgeordneten in der Großen Halle des Volks sämtliche Themenfelder abgearbeitet, die in den nächsten Monaten die Stoßrichtung des Landes bestimmen werden. Die meisten Beobachterinnen und Beobachter waren jedoch vor allem auf eine einzige Zahl gespannt: das von der Regierung gesetzte Wachstumsziel. Mit „rund 5 Prozent“ liegt es dieses Jahr so niedrig wie seit über einem Vierteljahrhundert nicht mehr.

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Überhaupt ist der am Montag eröffnete Volkskongress ein ganz besonderer: Erstmals nämlich tagt das chinesische Scheinparlament, seit sich Xi Jinping eine umstrittene dritte Amtszeit sichern ließ. Dementsprechend wird der mächtige Staatschef während der achttägigen Veranstaltung auch seine neue Führungsmannschaft vorstellen, die mehr denn je aus politischen Jasagern besteht. Zudem tagen die Delegierten während besonders turbulenter Zeiten: Zweieinhalb Jahre „null Covid“ haben der zweitgrößten Volkswirtschaft empfindlich zugesetzt; die geopolitischen Spannungen mit den USA haben deutlich zugenommen; und langfristig droht der demografische Wandel, Chinas Aufstieg schon bald auszubremsen.

Hohe Erwartungen an schnelle wirtschaftliche Erholung

Dementsprechend hoch sind die Erwartungen an eine schnelle wirtschaftliche Erholung des Landes. Das bescheidene Wachstumsziel von „rund 5 Prozent“, welches aufgrund der niedrigen Ausgangslage von 2022 vergleichsweise leicht zu erreichen sein sollte, hält eine ambivalente Botschaft bereit: Einerseits schwört Chinas scheidender Premier Li Keqiang seine Bevölkerung auf eine schwierige Zukunft ein. Die Zeit des rasanten Wachstums ist im Reich der Mitte endgültig passé – und wird auch wohl nicht mehr wiederkommen.

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Angesichts der erwarteten Erholung des Konsums ist das Ziel nicht zu ehrgeizig und würde etwas Spielraum für Reformen und einen Schuldenabbau bieten – beides ist dringend erforderlich, um längerfristige Wachstumsraten von etwa 5 Prozent zu gewährleisten.

Bert Hofman,

Professor an der Lee Kuan Yew School of Public Policy in Singapur

Gleichzeitig leitet der 67-Jährige einen Paradigmenwechsel ein, der von vielen Ökonominnen und Ökonomen begrüßt wird. Denn er verschiebt den Fokus vom rein numerischen Wachstum hin zur Qualität des Wachstums. „Angesichts der erwarteten Erholung des Konsums ist das Ziel nicht zu ehrgeizig und würde etwas Spielraum für Reformen und einen Schuldenabbau bieten – beides ist dringend erforderlich, um längerfristige Wachstumsraten von etwa 5 Prozent zu gewährleisten“, kommentiert etwa Bert Hofman, Professor an der Lee Kuan Yew School of Public Policy in Singapur, auf Twitter.

In früheren Jahren hat China vor allem in massive Infrastrukturprojekte investiert, um schnelles Wachstum zu generieren. Dieser Ansatz ist jedoch nicht nur wenig nachhaltig, sondern mittlerweile auch vollständig ausgereizt. Stattdessen möchte die Führung der Kommunistischen Partei (KP) nun den schwachen Konsum des Landes stärken, um einen neuen Wirtschaftsmotor zu kreieren. Dafür braucht es allerdings schmerzhafte Reformen – etwa eine Stärkung der sozialen Absicherungssysteme –, zu der die Führung der KP bislang noch nicht bereit war.

Rekord-Jugendarbeitslosigkeit von knapp 20 Prozent bekämpfen

Zudem legt die Volksrepublik ihre Priorität darauf, die rekordhohe Jugendarbeitslosigkeit von knapp 20 Prozent zu bekämpfen. Für 2023 möchte man daher zwölf Millionen neue Arbeitsplätze in den Städten schaffen und die urbane Arbeitslosenquote bei etwa 5,5 Prozent halten.

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Außenpolitische Themen spielen beim Nationalen Volkskongress traditionell eine untergeordnete Rolle. Den Ukraine-Krieg hat Li Keqiang in seinem Arbeitsbericht beispielsweise mit keiner Silbe erwähnt. Stattdessen hieß es lediglich, dass es „Turbulenzen“ und „unruhige Gewässer im internationalen Umfeld“ gebe.

Moderatere Töne in Bezug auf Taiwan

In Bezug auf Taiwan hat der scheidende Premier jedoch deutlich moderatere Töne angeschlagen als noch im Vorjahr. Aus seinen Worten ließ sich keine direkte militärische Drohung ableiten, ebenso sprach er keine Warnung gegen „ausländische Einmischungen“ aus. Der Fokus lag vor allem auf einer „friedlichen Wiedervereinigung“, die jedoch nicht näher spezifiziert wurde.

Gleichzeitig betonte Li Keqiang allerdings auffallend oft die „Kampfbereitschaft“ der chinesischen Volksbefreiungsarmee, welche man stärken müsse. Und dass das Militärbudget in diesem Jahr um 7,2 Prozent erhöht wird – eine leichte Steigerung im Vergleich zum Vorjahr –, dürfte für den demokratischen Inselstaat Taiwan ebenfalls besorgniserregend sein.

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Ein Pragmatiker spricht

Der Arbeitsbericht des scheidenden Premierministers Li Keqiang wird in den nächsten Tagen und Wochen noch en détail analysiert und interpretiert werden: Die englische Übersetzung erstreckt sich immerhin auf 39 Seiten. Doch allein eine quantitative Auswertung macht deutlich, dass hier ein Pragmatiker spricht und kein Ideologe: „Wachstum“ erwähnt Li 36-mal, der Begriff „Reform“ fällt 42-mal. Die ideologischen Floskeln, die unter Xi Jinping immer prominenter in den Vordergrund gestellt werden, lassen sich hingegen nur am Rande finden.

Dementsprechend ist es kein Zufall, dass sich Li Keqiang in den kommenden Tagen in den Ruhestand verabschieden wird. An seine Stelle tritt nun mit Li Qiang, Parteisekretär von Shanghai, ein enger Gefolgsmann Xi Jinpings. Dieser wird Teil eines Führungsteams sein, welches zwar durchaus Fachexpertise vorweisen kann, doch vor allem wegen seiner politischen Loyalität zum übermächtigen Parteivorsitzenden selektiert wurde.

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