EU: Gaspreise bremsen, aber wie?
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EU-Komissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf dem Weg zum ersten Treffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft.
© Quelle: IMAGO/CTK Photo
Frankfurt am Main/Brüssel. Die Gaspreise schießen in ungeahnte Höhen, Verbrauchende und Unternehmen ächzen unter bislang unvorstellbar hohen Rechnungen. Diese Probleme werden am Freitag beim informellen Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs in Prag ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Wir erläutern, welche Rolle dabei der Handel an den Energiebörsen spielt.
Sind die Gaspreise an den Energiebörsen tatsächlich aus Rand und Band?
Ja. Das zeigt ein Blick auf die für Europa maßgeblichen Termingeschäfte im Großhandel (Dutch TTF). Zwischen Oktober 2020 und Juni 2021 schwankten die Preise für eine Megawattstunde noch zwischen 15 und 20 Euro. Veränderungen in diesem Maß gibt es derzeit oft innerhalb weniger Minuten. Zudem ist das Preisniveau in komplett andere Regionen gestiegen. Am Donnerstag ging die Notierung für die Megawattstunde zwischen 9 Uhr und 9.50 Uhr von 177 auf 167 Euro herunter.
Was ist der Grund für diese massiven Veränderungen?
Der TTF-Index war für einen Markt entwickelt worden, der von billigem Erdgas geprägt war, das über Jahrzehnte in riesigen Mengen und verlässlich aus Russland nach Europa gepumpt wurde. Als Russland schon im vorigen Herbst begann, immer weniger zu liefern, kamen die Notierungen heftig in Bewegung. Der vorläufige Höhepunkt wurde Ende August erreicht, als klar war, dass kein Erdgas mehr über die die Nord-Stream-1-Pipeline kommt: Knapp 350 Euro pro Kilowattstunde.
Wie wird beim Dutch TTF überhaupt gehandelt?
TTF steht für Title Transfer Facility. Es handelt sich um einen virtuellen Handelsplatz zur Übertragung von Erdgaskapazitäten. Der wichtigste Kontrakt ist für die Lieferung im folgenden Monat. Verkäufer tun so, als würden sie ihr Erdgas in einen fiktiven Erdgassee pumpen. Käufer können gegen Bezahlung Gas aus dem See abpumpen. Der Erdgassee befindet sich in den Niederlanden, da das Land der wichtigste Umschlagplatz in Europa für den Brenn- und Rohstoff ist. Deshalb dient Dutch TTF als Orientierungspunkt für den gesamten europäischen Markt.
Bundesländer fordern Energiepreisdeckel vom Bund
„Es ist nicht zu erwarten, dass nächste Woche alle Fragen gelöst werden. Dazu ist das Thema sicher zu komplex“, sagte NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst.
© Quelle: Reuters
Was bringt diese Konstruktion?
So entstehen vergleichbare Preise, bei denen der Transport keine Rolle spielt. Dies geht auf eine EU-Richtlinie von 2009 zurück, womit der europäische Energiemarkt gefördert werden sollte, indem der Handel vom Betreiben von Fernleitungen entkoppelt wurde. Das hat die Liquidität erhöht. Doch nun ist genau dies zu einem Problem geworden.
Obergrenze mit gefährlichen Folgen
Wie will die EU-Kommission das Problem lösen?
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schlägt einen innereuropäischen Gaspreisdeckel vor, bei dem die Preise für den Import in die Union – etwa aus Norwegen oder den USA – zwar unberührt bleiben. Doch es soll am TTF-Handelsplatz eine Preisobergrenze in Betracht gezogen werden, „die die Gasversorgung Europas und aller Mitgliedsstaaten weiterhin sicherstellt“, heißt es in einem Schreiben von der Leyens an die Staats- und Regierungschefs, aus dem die Nachrichtenagentur Reuters zitiert. Das wäre ein erheblicher Eingriff in den Markt.
Was wären die konkreten Auswirkungen?
Die Gewinnmargen der Gaskonzerne würden automatisch begrenzt. 15 Staaten, darunter die Schwergewichte Frankreich und Italien, fordern einen Preisdeckel für importiertes Gas. Laut Reuters gibt es unter EU-Diplomaten aber große Skepsis. Auch Deutschland und die Niederlande sind dagegen. Entscheidend dürfte dabei die Frage sein, wo die Preisobergrenze verläuft. Ist sie niedrig, besteht das Risiko, dass Energiekonzerne das Gas an Abnehmer in Nicht-EU-Staaten verkaufen – wenn dort höhere Preise erzielt werden können. Das könnte die Versorgungssicherheit in einzelnen EU-Ländern beeinträchtigen und bis zum Rationieren von Erdgas führen.
Neue Regeln für den Gasmarkt
Muss sich langfristig was ändern?
Davon ist die EU-Kommission überzeugt. Von der Leyen hat die Preisobergrenze als vorübergehende Lösung bezeichnet. Während an Regelungen für eine neue Benchmark gearbeitet werde. Das ist plausibel, denn der europäische Gasmarkt erlebt gerade einen rasanten Komplettumbau: Weg von russischem Pipelinegas und hin zu verflüssigtem Gas (LNG), das auf dem Weltmarkt gekauft und per Schiff transportiert wird. LNG ist in normalen Zeiten nicht nur um etwa ein Viertel teurer, es unterliegt auch größeren Preisschwankungen. Um künftig ähnliche Übertreibungen wie aktuell zu vermeiden, müsste der Handel gebremst werden. Das könnte zum Beispiel mit einer Steuer auf jede Transaktion geschehen, solche Regelungen sind aber am Finanzmarkt äußerst unbeliebt.
Wie sehen die Perspektiven für die nächsten Monate aus?
Viele Akteure und Akteurinnen in der Energiewirtschaft hoffen, dass sich der Markt im neuen Jahr beruhigt, wenn mehr LNG aufgrund neuer Anlandestellen in Deutschland ins Angebot kommt. Außerdem sollen Kohle- und Atomkraftwerke in den nächsten Monaten dafür sorgen, dass weniger Erdgas für die Erzeugung von Strom eingesetzt wird.
Hoffnung auf Rabatte von Freunden
Welche weiteren Schritte sind auf EU-Ebene zur Begrenzung der Gaspreise möglich?
Einigkeit besteht unter den Staats- und Regierungschefs vorerst nur in dem gemeinsamen Wunsch, gegen die „Mondpreise“ (Wirtschaftsminister Robert Habeck). Wie das aber geschehen soll, darüber wird erbittert gestritten. Von der Leyen hat in ihrem Brief auch vorgeschlagen, den Preis für Gas zu deckeln, das für die Stromerzeugung verwendet wird. Spanien und Portugal machen das bereits. Dort ist tatsächlich der Strompreis gesunken. Doch die Energiemärkte auf der iberischen Halbinsel sind relativ isoliert vom Rest der EU. Eine Ausweitung des sogenannten iberischen Modells auf die gesamte EU könnte zu erheblichen Verwerfungen führen.
Was hat von der Leyen noch im Köcher?
Es sollen Verhandlungen mit verlässlichen Gaslieferanten wie Norwegen und den USA geführt werden. Ziel ist, diese Gasproduzenten davon zu überzeugen, ihre Preise freiwillig zu senken. Das Problem: Es kann momentan niemand sagen, ob dieser Vorstoß Erfolg haben wird. Es besteht die Gefahr, dass die Produzenten in den USA oder Norwegen die Preise nicht senken wollen und ihr Gas lieber nach Asien verkaufen.
Was spricht dennoch für diese Idee?
Von der Leyen bringt die Größe der EU ins Spiel. „Als EU haben wir eine große Marktmacht“, sagte sie gerade in einer Rede vor dem Europaparlament. Viele Partner hätten großes Interesse daran, gute und langfristige Lieferbeziehungen zu haben. Ein weiteres Lockmittel: Es soll keinen Festpreis geben, sondern dynamische Preiskorridore. Entscheidungen werden am Freitag nicht erwartet – und ob es beim nächsten regulären EU-Gipfel Ende des Monats in Brüssel dazu kommen wird, steht in den Sternen.
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