Ohne Sparen wird es im Winter und 2023 auch eng
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Zu über 95 Prozent sind deutsche Gasspeicher derzeit gefüllt. Ob sie einen solchen Stand auch 2023 wieder erreichen, ist ungewiss.
© Quelle: Hauke-Christian Dittrich/dpa
München. Eines stellt Jean-Baptiste Dubreuil schon zur ersten Frage klar. „Eine Prognose über die Verfügbarkeit von Gas in Europa oder die Preisentwicklung können wir nicht machen“, sagt der Gasanalyst der Internationalen Energie Agentur (IEA). „Es gibt zu viele Unwägbarkeiten“, ergänzt Kollege Gergely Molnar. Beide präsentieren regelmäßig einen globalen Gasmarktreport mit besonderem Fokus auf Europa. Aber wirklich klar ist derzeit wenig. Keinesfalls werden neue Importe von Flüssiggas in die EU 2023 die nochmaligen Rückgänge von russischen Gaslieferungen nach Europa ausgleichen können, die sich im Jahresschnitt schon jetzt rechnerisch ergeben, stellen beide Experten klar. Ohne Energiesparen auf allen Ebenen drohe in der EU Gasrationierung.
Das Expertenduo geht im besten Fall davon aus, dass russisches Gas auf jetzigem Niveau weiter durch noch genutzte Pipelines fließt, halten es aber auch für möglich, dass es demnächst völlig versiegt. Für 2022 zeichne sich ab, dass bis Jahresende noch 62 Milliarden Kubikmeter russisches Gas nach Europa geflossen sein werden. Für 2023 rechnen die IEA-Experten mit maximal der Hälfte oder schlimmstenfalls gar nichts mehr.
Fernwärmebetreiber ruft zum Sparen von Energie und Gas auf
Der Vorstandsvorsitzende der Vattenfall Wärme Berlin AG, Christian Feuerherd, appelliert zudem an die Verbraucher, nicht auf Elektroheizungen auszuweichen.
© Quelle: Reuters
Bestenfalls 20 Milliarden Kubikmeter Gas können in flüssiger Form per LNG-Terminals und Schiffen 2023 nach Europa fließen, sagen Dubreuil und Molnar. Das reicht selbst im besten Fall nicht zur Kompensation. Zum einen sei die zusätzlich produzierbare LNG-Menge nicht beliebig. Zum anderen seien die Transportkapazitäten begrenzt. Es brauche spezielle LNG-Tanker, deren Neubau Jahre in Anspruch nimmt. Aktuell hat Europa in puncto LNG sogar Glück im Unglück.
Denn China als Großabnehmer von Gas steht auf der Bremse. Grund ist nicht politische Nachsicht mit Europa, sondern die harte Corona-Politik der chinesischen Staatsmacht, die schon auf kleine Ausbrüche mit großflächigen Lockdowns reagiert und so das Wachstum der heimischen Wirtschaft abwürgt. Die braucht deshalb derzeit weniger Energie und LNG-Lieferungen können vorerst nach Europa umgelenkt werden, sagen die beiden Experten. Ob diese Situation 2023 anhält, wagen sie nicht vorherzusagen.
Es sei aber für die EU fraglos eine große Herausforderung, auch nächstes Jahr wieder Füllstände ihrer Gasspeicher von über 90 Prozent zu bekommen, wie das derzeit der Fall ist. „Es wird eng“, sagt Molnar mit Blick auf 2023. Er und Dubreuil wollten sich nicht auf die Aussage einlassen, dass mit dem bevorstehenden Winter das Schlimmste überwunden ist, und sind mit ihrer Skepsis nicht allein.
Auch der IWF warnt vor einem noch härteren Jahr 2023
„Dieser Winter wird schwierig, aber der Winter 2023 könnte noch schlimmer werden“, sagte Gita Gopinath als Vizedirektorin des Internationalen Währungsfonds (IWF) dem „Handelsblatt“. Die Energiepreise würden noch für längere Zeit hoch bleiben, was ein Industriestandort wie Deutschland besonders deutlich spüre.
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Auch Dubreuil und Molnar rechnen mit bis mindestens 2023 hoch bleibenden Energie- und vor allem Gaspreisen, die wohl auf Jahre nicht mehr auf das Niveau von 2021 zurückfallen dürften. Über die genaue Höhe wollen sie nicht spekulieren. Schon Kältewellen in diesem Winter könnten jede Kalkulation zur Makulatur machen. Derzeit sei die Lage klimatisch entspannt, weil die Temperaturen vor allem auch in Europa milde sind.
So lagen sie in Deutschland vergangene Woche um 0,7 Grad Celsius über dem Vergleichszeitraum der Jahre 2018 bis 2021, stellt die Bundesnetzagentur klar. Ob das bis Ende der Heizperiode im kommenden Frühjahr so bleibt, wissen auch die besten Meteorologen nicht.
Für die Preisentwicklung 2023 mitentscheidend sei zum Beispiel aber auch, ob französische Atomkraftwerke wieder in größerer Zahl als aktuell zur Verfügung stehen und vermehrt Strom liefern, stellen die IEA-Experten klar. Ohne Sparen werde man jedenfalls weder diesen Winter noch 2023 problemlos über die Runden kommen.
Das tut die deutsche Industrie laut Bundesnetzagentur in größerem Ausmaß seit Mai mit einer Verbrauchsreduzierung von 12 Prozent. Seitdem haben monatliche Minderverbräuche rund 20 Prozent erreicht. Bei Haushalt- und Gewerbekunden sieht es bislang nicht ganz so gut aus. Im September wurde in dem Bereich knapp 12 Prozent weniger Gas verbraucht, im August zwar sogar knapp 29 Prozent weniger. Im April waren es aber fast 15 Prozent mehr, vor allem auch weil der Monat relativ kalt war. „Die Nachfrageentwicklung ist entscheidend“, stellt Dubreuil mit Blick auf die künftigen Gaspreise klar.