Streitfall Nord Stream 2: Was Sie über das Milliardenprojekt wissen sollten
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Ein Rohrstück für die Gaspipeline Nord Stream 2 vor der Verlegung. Die Strecke unter der Ostsee ist 1230 Kilometer lang.
© Quelle: Dmitry Lovetsky/AP/dpa
Berlin. Eigentlich sollte die umstrittene Ostsee-Erdgaspipeline Nord Stream 2 schon Ende 2019 in Betrieb gehen. Heute, zwei Jahre später, ist sie zwar fertiggestellt, aber Gas fließt durch sie immer noch nicht von Russland nach Deutschland.
Zwar ist der Bedarf in Deutschland gestiegen und die Gaspreise sind explodiert, aber die 1230 Kilometer lange Doppelröhre ist inzwischen zu einem Politikum geworden, auch wenn Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) derzeit noch von einem Wirtschaftsprojekt spricht.
Um Chancen und Risiken des Zehn-Milliarden-Euro-Projekts auszuloten, hat das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) mit dem Chef des unabhängigen Beratungsunternehmens The Gas Value Chain Company GmbH (Friedrichskoog), Wolfgang Peters, Fragen und Antworten zusammengestellt. Peters hat 33 Jahre in der Gasindustrie gearbeitet, zuletzt acht Jahre als CEO für RWE in Tschechien. Heute arbeitet er als Gutachter in Schiedsverfahren und analysiert die Entwicklung der Gasmärkte.
Wirtschaftsminister Habeck gilt als Gegner des Projekts. Kann er die bisherige positive Haltung seines Hauses dazu revidieren?
Eigentlich nicht. Das Wirtschaftsministerium hat am 26. Oktober unter Minister Peter Altmeier (CDU) ein positives Statement zu Nord Stream 2 gegenüber der Bundesnetzagentur abgegeben, die letztlich für die Zertifizierung, also für die Betriebszulassung der Pipeline, zuständig ist. Tenor: „Eine Zertifizierung gefährdet die Sicherheit der Gasversorgung der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union nicht.“
Dabei handelt es sich um einen formellen Bescheid, den man nicht einfach zurückziehen kann. Habeck bewertet das Projekt zwar als einen politischen Fehler, versichert aber auch, das Zertifizierungsverfahren werde nach Recht und Gesetz abgewickelt. Und auch Kanzler Olaf Scholz (SPD) sagte am 17. Dezember in Brüssel: „Es handelt sich im Hinblick auf Nord Stream 2 um ein privatwirtschaftliches Vorhaben. Darüber entscheidet ganz unpolitisch eine Behörde in Deutschland.“
Die Bundesnetzagentur hat das Genehmigungsverfahren vorläufig ausgesetzt. Worum geht es dabei?
Die EU-Gasrichtlinie schreibt seit Langem vor, dass der Betreiber einer Pipeline und der Gaslieferant nicht identisch sein dürfen und anderen Lieferanten Netzzugang gewährt werden muss. Dadurch wurde das Netzmonopol gebrochen und die Liberalisierung des EU-Gasmarktes möglich.
Im April 2019 wurde die EU-Gasrichtlinie dahingehend geändert, dass sie nun auch auf Importpipelines aus Drittstaaten anwendbar ist. Diese Änderung betraf nach Wolfgang Peters Recherchen nur Nord Stream 2, und zwar zu einem Zeitpunkt, als alle Genehmigungen bereits erteilt und Milliarden investiert worden waren.
Der Pipelinebauer, die Nord Stream 2 AG mit Sitz in der Schweiz, hatte bereits vor einiger Zeit beantragt, als Independent Transmission Operator (Ito; unabhängiger Netzbetreiber) für den innerhalb der Zwölf-Seemeilen-Zone befindlichen Teil der Pipeline zugelassen zu werden. Nun muss sie hierfür aber eine Tochtergesellschaft nach deutschem Recht gründen. Dazu muss unter anderem der Abschnitt der Pipeline, der sich in der Zwölf-Meilen-Zone vor der deutschen Küste befindet, in das Eigentum dieser neuen Firma übertragen werden, die dann als Ito fungiert.
Bislang ist noch kein Gas nach Deutschland geflossen. Was ist nach jetzigem Stand realistisch?
Wenn nichts Außergewöhnliches mehr dazwischen kommt, erscheint jetzt der Sommer 2022 für eine Betriebszulassung realistisch. Wenn Nord Stream 2 die deutsche Tochter gegründet und dazu die Unterlagen bei der Netzagentur eingereicht hat, hat die Behörde zwei Monate Zeit zur Prüfung. Danach gehen die Unterlagen an die Europäische Kommission, die wiederum vier Monate Zeit hat zu prüfen, ob die Zertifizierung ordnungsgemäß gelaufen ist.
Wenn man unterstellt, dass der mögliche Zeitrahmen ausgeschöpft wird, ist man frühestens bei Anfang Juli 2022. Vor dem Hintergrund des in hohem Maße politisierten Projekts wird die Bundesnetzagentur alles vermeiden, um irgendeinen Formfehler in der Sache zu begehen.
Ende Februar 2022 gibt es einen Wechsel an der Spitze der Bundesnetzagentur. Wird das Einfluss auf die Zertifizierung haben?
Davon ist nicht auszugehen. Zwar können Nachfolger Prioritäten neu setzen, sind aber ebenso an Recht und Gesetz gebunden wie ihre Vorgänger. Hier gilt in aller Regel die Devise vom Schiff, das weiterfährt, auch wenn der Kapitän mal nicht auf der Brücke ist. Der Apparat der Netzagentur dürfte einfach professionell weiterarbeiten.
Zuletzt hatte US-Präsident Biden versichert, dass es keine neuen Sanktionen gegen Nord Stream 2 geben werde. Hat sich damit Washingtons Haltung gegen das Projekt geändert?
Man kann das als ein Zugeständnis an die damalige Kanzlerin Angela Merkel im Sinne der deutsch-amerikanischen Partnerschaft betrachten. Aber damit ist die Sache nicht ausgestanden, vor allem die Republikaner machen weiter Druck. Dennoch könnte sich das Blatt wenden: Bisher ging es neben der politischen Komponente gegen Russland auch um wirtschaftliche Interessen Amerikas.
Die US-Industrie wollte mehr Flüssiggas (LNG) in Europa verkaufen, das in Amerika unter fragwürdigen Umweltbedingungen aus Schiefergestein (Fracking) gepresst wird. Inzwischen stöhnen aber auch die US-Verbraucher unter explodierenden Gaspreisen, sodass es viele Stimmen im Kongress und im Senat gibt, den Export zu drosseln, um die Preise im Inland nicht endlos ausufern zu lassen.
Die Ukraine kritisiert, dass ihr mit Nord Stream 2 Transitgebühren verloren gehen und dies die ukrainische Wirtschaft destabilisieren würde.
Die Sorge ist nicht unberechtigt, allerdings besteht zunächst noch eine über Deutschland eingefädelte Transportzusicherung Russlands über die Ukraine bis Ende 2024. Zudem hat Angela Merkel zugesagt, dass Deutschland sich in Moskau dafür einsetzen wird, dass es über 2024 hinaus für mindestens weitere zehn Jahre Gastransit über die Ukraine geben wird.
Allerdings war dazu in den letzten Monaten nichts zu hören, Interviewanfragen des RND im Wirtschafsministerium wurden abschlägig beantwortet. Anfang der 1970-er Jahre gebaut, war die Transgaspipeline durch die Ukraine für mehr als 25 Jahre die einzige große Leitung für die Versorgung von West- und Mitteleuropa mit Erdgas aus Sibirien.
Der mögliche Einnahmeverlust der Ukraine wird unterschiedlich beziffert und schwankt zwischen einer bis 3 Milliarden Dollar pro Jahr. Das entspräche etwa 3 bis 9 Prozent des Staatshaushalts. Dessen ungeachtet sieht die Ukraine Nord Stream 2 als „Dolch im Rücken“ an, wie es Botschafter Andrij Melnyk gegenüber dem RND formulierte.
Kann Deutschland Nord Stream 2 als Hebel benutzen, um eine drohende russische Invasion in der Ukraine abzuwenden?
Eher nicht. Zwar würde die Nichtinbetriebnahme Russland schmerzen, aber es ist nicht unbedingt davon auszugehen, dass das ein Hinderungsgrund wäre, die Ukraine anzugreifen. Nüchtern betrachtet, handelt es sich bei Nord Stream 2 um eine Stahlröhre; worum es geht, ist der Handel mit Gas. Der könnte dann zum Beispiel mittels erhöhtem Transit durch die Ukraine fortgesetzt werden.
Ein gezieltes Gas-Importembargo, beschlossen auf EU-Ebene, würde viel mehr Durchschlagskraft besitzen als das Verbot einer einzelnen Pipeline. Noch schmerzlicher wäre ein Embargo gegen russisches Rohöl, dessen Wert bis zu fünf Mal höher liegt als der von Gas. Zudem importiert Europa mit 32 Prozent mehr Rohöl aus Russland als Gas (26 Prozent).
Wenn die Inbetriebnahme der Pipeline – aus politischen Gründen – verboten wird, kommen dann Schadensersatzforderungen auf den Bund zu?
Davon ist auszugehen, weil es sich hier nicht um einen Schwarzbau, sondern um ein von deutscher und europäischer Seite genehmigtes Projekt handelt. Daran beteiligt sind neben dem russischen Energieriesen Gazprom auch fünf westeuropäische Firmen als Finanzinvestoren, darunter OMV Österreich, Uniper Deutschland und Shell Großbritannien.
Das Projekt war ursprünglich einmal mit 8 Milliarden Euro veranschlagt, durch die jahrelange Verzögerung mit Baustopp und Sanktionen dürften sich die Kosten inzwischen auf etwa 10 Milliarden Euro belaufen. Wie auch im Falle der vorgezogenen AKW-Abschaltungen ist mit Schadensersatzforderungen zu Lasten der Steuerzahler zu rechnen.
Kritiker sagen, Nord Stream 2 wird schon deshalb nicht gebraucht, weil Gas fast so schädlich wie Kohle für den Klimawandel ist.
Die Belastung durch Kohlendioxid ist beim Verstromen von Gas wesentlich niedriger als beim Verfeuern von Kohle, und es entsteht kein Feinstaub und kaum Stickoxyd. Durch einen vollständigen Wechsel von Kohle zu Gas ließe sich der Kohlendioxidausstoß um 70 Prozent senken, sagt Ulf Heitmüller, Chef des Leipziger Gaskonzerns VNG AG.
Zudem kann der CO₂-Gehalt durch die Beimischung von Wasserstoff schrittweise weiter reduziert werden. Da Deutschland bis Ende 2022 komplett aus der Atomkraft aussteigt und den Kohleausstieg auf 2030 vorziehen will, bleibt derzeit nur Gas als steuerbare Stromerzeugungsquelle übrig.
Da Wind- und Sonnenenergie noch nicht ausreichen, muss Deutschland bis 2030 neue, wasserstofffähige Gaskraftwerke mit einer Leistung von 15 Gigawatt – das entspricht mehr als zehn Atomkraftwerken – bauen, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, haben Fachleute des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität Köln (Ewi) errechnet.