Mit 18 Jahren vom Blitz getroffen: „Ich lag im Koma und dachte, ich wäre tot“

Lena Cornelissen erlitt schwere Verbrennungen, als sie vor zweieinhalb Jahren vom Blitz getroffen wurde.

Lena Cornelissen erlitt schwere Verbrennungen, als sie vor zweieinhalb Jahren vom Blitz getroffen wurde.

Lena Cornelissen wusste eigentlich ganz genau, wie sie ihr Leben nach dem Abitur gestalten wollte. Nach einem Freiwilligen Sozialen Jahr in einer Förderschule in ihrer Heimat Bonn und einem Freiwilligendienst in Bolivien sollte ihr Medizinstudium beginnen. Doch ihre Pläne wurden von einem schweren Unfall durchkreuzt: Im Alter von 18 Jahren wurde sie in Bolivien von einem Blitz getroffen. Wie durch ein Wunder überlebte sie den Blitzschlag, doch Cornelissen hat noch bis heute mit den Folgen zu kämpfen. Ihr Leben hat sich in den zweieinhalb Jahren nach dem Unfall aber zum Positiven verändert, wie sie im Interview mit dem Redaktions­Netzwerk Deutschland (RND) erzählt.

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Frau Cornelissen, Sie wurden vor fast zweieinhalb Jahren von einem Blitz getroffen. Wie ist es zu diesem schweren Unfall gekommen?

Ich habe in Bolivien als Freiwillige bei einer kleinen Nichtregierungs­organisation gearbeitet. Am Ostermontag 2019 kam ich von einem Ausflug zur Hauptstadt Sucre zurück zum Haus, in dem ich zusammen mit anderen Freiwilligen wohnte. Ich habe Wäsche gewaschen und wollte sie anschließend aufhängen. Zu dem Zeitpunkt war Sonnenschein und es hatte nicht gewittert, sonst hätte ich die Wäsche auch nicht aufgehängt. Die Wäscheleine war aus Draht, ich hatte nasse Haare und Kopfhörer in den Ohren. Ich hatte zudem keine Schuhe an und das Handy in der Hosentasche. Das waren also optimale Leitungs­bedingungen.

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Die Sonne schien, es gab kein Gewitter – und trotzdem traf Sie ein Blitz. Wie kann das sein?

Mich traf ein sogenannter Trockenblitz, auch bekannt als verirrter Blitz. Ich befand mich zu dem Zeitpunkt auf einem Gebirge in 3200 Metern Höhe. Meine Theorie ist daher, dass das Gewitter hinter den Bergen stattgefunden hat und der Blitz sich wortwörtlich verirrt hat. Ich nehme auch an, dass die Tragleine den Blitz angezogen hat. Aber das kann ich natürlich nicht genau wissen – und es wird mir wahrscheinlich auch niemand je erklären können, wie und warum es passiert ist.

Können Sie sich noch an den Moment erinnern, als Sie der Blitz traf?

Nein. Mir wurde von den anderen Freiwilligen erzählt, dass ich Feuer gefangen und geschrien habe. Die Wäscheleine hat sich um mich gewickelt und ich erlitt einen Herzstillstand. Glücklicherweise sind umgehend andere Freiwillige gekommen, die den Brand gelöscht haben und mich reanimiert und beatmet haben. Ich hatte total Glück, dass ich so eine tolle Erstversorgung hatte. Ich wurde direkt ins Krankenhaus gebracht.

Lena Cornelissen wurde im Alter von 18 Jahren vom Blitz getroffen. Ihr Leben hat sich nach dem Unfall stark verändert – jedoch größtenteils zum Positiven, wie sie im Interview erzählt.

Lena Cornelissen wurde im Alter von 18 Jahren vom Blitz getroffen. Ihr Leben hat sich nach dem Unfall stark verändert – jedoch größtenteils zum Positiven, wie sie im Interview erzählt.

Ärztinnen und Ärzte haben sicherlich wenig Erfahrung mit Patientinnen und Patienten, die gerade vom Blitz getroffen wurden. Wie haben sie Sie im Krankenhaus behandelt?

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Ich wurde erst mal ins künstliche Koma versetzt. Die Ärztinnen und Ärzte haben dann zunächst die verbrannte Haut zum Teil abgetragen und Schweinehaut transplantiert, damit die Wunden geschlossen sind und sich nicht infizieren. Zu einer Infektion ist es leider trotzdem gekommen. Bevor ich zurück nach Deutschland und dort weiterbehandelt werden konnte, musste ich leider noch für zwei Tage aus dem Koma geholt werden und wachbleiben. Denn die Ärztinnen und Ärzte in Bolivien meinten, es können nur wache Patientinnen und Patienten ausgeflogen werden. Das war sehr schrecklich, ich hatte Todesangst und habe sehr viel halluziniert. Ich bin den Ärztinnen und Ärzten natürlich sehr, sehr dankbar – sie haben mir das Leben gerettet. Aber der Standard der Gesundheits­versorgung ist in Deutschland einfach höher. Nach zehn Tagen wurde ich vom Roten Kreuz dann nach Deutschland ausgeflogen und wurde im Flieger erneut ins künstliche Koma versetzt.

Wie ging es in Deutschland mit der Behandlung weiter?

Ich wurde in einer Klinik in Deutschland behandelt. Meine Wunden wurden zunächst gereinigt und mit Eigenhaut transplantiert, das ist die einzige Behandlung von schweren Verbrennungen, die langfristig hält. Mein Zustand verschlechterte sich aber sehr stark. Ich hatte eine schwere Blutvergiftung, Multiorganversagen und zu viel Wasser im Körper. Meine Eltern sollten sich von mir verabschieden, weil die Ärztinnen und Ärzte nicht dachten, dass ich die Nacht überstehen würde.

Das muss für Ihre Eltern schrecklich gewesen sein.

Ja. Ich würde immer noch sagen, dass ich den Unfall ohne sie gar nicht überlebt hätte. Meine Eltern wurden nach dem Unfall mitten in der Nacht von der deutschen Botschaft angerufen und flogen sofort nach Bolivien. Ich wäre ansonsten ganz allein in diesem Todeskampf gewesen. Sie durften mich allerdings nur zwei Stunden am Tag besuchen. Die Hilfe und Unterstützung, die ich von meinen Eltern bekam, waren mein Lichtblick. Sowohl in der Zeit, in der ich wach war, als auch in der Zeit, in der ich im künstlichen Koma lag und dachte, dass ich tot wäre.

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Ich war sozusagen kein Mensch und hatte keinen menschlichen Körper mehr. Ich war nur eine Seele.

Wie fühlt es sich an, wenn man im Koma liegt und denkt, dass man gestorben sei?

Das ist sehr schwierig zu beschreiben. In diesem Zustand ist es wie im Traum, mein Zeitgefühl ist völlig durcheinander­geraten. Vor allem im Ambulanzflieger ging es mir immer schlechter, und das habe ich gemerkt. Ich hatte laut dem Arztbericht eine Atem­insuffizienz – die Zeit war für mich eine Nahtoderfahrung. Ich war sozusagen kein Mensch und hatte keinen menschlichen Körper mehr. Ich war nur eine Seele. Das war so ziemlich das Schlimmste von allem. Worauf arbeitet man schon hin, wenn man denkt, dass man tot ist? Ums Überleben braucht man schließlich nicht mehr zu kämpfen. Diese Bilder sind jeden Tag noch da. Ich glaube, das kann niemand so richtig nachvollziehen.

Mit welchen Folgen und Einschränkungen haben Sie nach dem Unfall zu kämpfen?

Die Verbrennungen sind so ziemlich die einzigen sichtbaren Folgen des Unfalls. Ich trage viele Narben davon, die immer noch sehr jucken, schmerzen und spannen. Ich trage wegen der Narben auch Kompressions­kleidung sowie einen Silikonkragen und eine Silikonmaske für das Gesicht. Die sind dafür da, dass die Haut glatter und weicher wird, weil Narben sehr dazu neigen, zu expandieren. Ich habe auch neurologische Schäden im Kleinhirn. Sprich: Ich habe Probleme mit der Koordination und dem Gleichgewicht und laufe daher am Rollator oder mit Gehstock. Ich trage ein Hörgerät, weil ich bei dem Unfall meine Ohrmuscheln verloren habe und ich wegen der neurologischen Schäden viel schlechter hören kann. Ich habe außerdem mit chronischer Müdigkeit zu kämpfen und habe auch psychische Folgen, darunter Albträume, Flashbacks und verschlimmerte Depressionen. Aktuell habe ich auch immer stärkere Schmerzen an den Gelenken.

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Wie war es für Sie, als sie nach vielen Monaten im Krankenhause wieder erstmals nach Hause zurückkehren konnten?

Ich wurde sehr anders behandelt, meine Persönlichkeit wurde mir teilweise abgesprochen und ich wurde auf äußerliche Merkmale reduziert.

Alles war ganz seltsam und fühlte sich fehl am Platz an. Die meisten Menschen sagten mir, ich bin noch dieselbe, aber ich fühlte mich nicht wie derselbe Mensch. Ich hatte eine totale Unruhe und habe mein Zimmer sehr oft umdekoriert, weil ich viele Dinge auch einfach nicht mehr haben konnte. Ich habe zum Beispiel die Fotos abgehängt, weil ich es am Anfang nicht ertragen konnte, das zu sehen, was mir genommen wurde. Viele Menschen reagieren natürlich auch anders auf mich, seitdem ich die Narben habe. Sie sind vor allem unbeholfen und haben Berührungs­ängste. Ich habe aber eigentlich wenig schlechte Erfahrung mit Menschen gemacht, die mich kennen. Die blöden Erfahrungen habe ich mit fremden Leuten gemacht. Ich wurde sehr anders behandelt, meine Persönlichkeit wurde mir teilweise abgesprochen und ich wurde auf äußerliche Merkmale reduziert. Die Gesellschaft behandelt mich als Menschen mit sichtbarer Behinderung einfach ganz anders als vorher. Dazu kommen die vielen physischen Barrieren.

Fällt es Ihnen schwer, über Ihren Unfall und Ihre Erfahrungen zu sprechen?

Es fällt mir tatsächlich relativ leicht. Ich habe öffentlich sehr oft schon darüber gesprochen und mich somit in gewisser Weise davon distanziert. Ich weiß inzwischen genau, was ich zu meinem Unfall sagen kann und möchte. Das hilft mir auch dabei, meine Erfahrungen zu verarbeiten. Denn den Unfall kann und möchte ich nicht verdrängen. Auch wenn ich harte Zeiten habe und ich mir manchmal denke, wie scheiße alles ist, sehe ich auch oft, dass ich mich in zweieinhalb Jahren so sehr stark zum Positiven verändert habe. Ich würde nicht mal mehr einen Reset-Knopf drücken, auch wenn es einen geben würde.

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Was genau hat sich in Ihrem Leben nach dem Unfall zum Positiven verändert?

Mir wurde durch den Unfall bewusst, was ich wirklich im Leben möchte und was mir wichtig ist.

Mir wurde durch den Unfall bewusst, was ich wirklich im Leben möchte und was mir wichtig ist. Ich habe auch meine Aufgaben im Leben gefunden, in dem ich ehrenamtlich tätig sowie politisch aktiv bin und mich für eine gerechtere Gesellschaft einsetze. In meinem Psychologie­studium kann ich zudem meine eigenen Erfahrungen einbringen. Ich musste sehr viel durchmachen, aber ich habe diese harten Zeiten nicht umsonst durchgemacht. Jetzt versuche ich, anderen mit meinen Erfahrungen zu helfen.

Wie geht es jetzt für Sie weiter?

Auf mich warten noch einige Operationen, in denen es darum geht, dass mich die Narben nicht mehr funktionell einschränken. Ich verbringe immer noch die Hälfte des Jahres im Krankenhaus und in der Reha und habe in der Woche zwölfmal Therapie. Obendrein studiere ich noch Vollzeit und bin ehrenamtlich und politisch sehr aktiv. Es ist sehr schwierig, alles unter einen Hut zu bringen. Würde ich mich mit einem Wort beschreiben, dann wäre wahrscheinlich Workaholic der treffendste Begriff – das war auch schon vor dem Unfall so. Ich muss mir aber eingestehen, dass ich jetzt weniger leistungsfähig bin als vorher. Ich bin seit dem Unfall oft über meine Grenzen hinausgegangen und jetzt sagt mir mein Körper: „Stopp, aus, Ende.“ Seit fünf Monaten habe ich auch wieder stärker mit Depressionen zu kämpfen – also ist es jetzt an der Zeit, mir mehr Zeit für meine Gesundheit zu nehmen.

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