Warum wir die Ozeane retten müssen
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Fischer retteten eine Meeresschildkröte vor dem Tod.
© Quelle: imago/imagebroker
Prof. Boetius, was bedeutet eine UN-Dekade der Ozeanforschung für die Wissenschaft?
Es ist genau genommen keine UN-Dekade der Meeresforschung, sondern der Ozeanforschung für nachhaltige Entwicklung. Dahinter steht vor allem die Erkenntnis, dass die Meere eine Stimme brauchen und Menschen, die für sie arbeiten, nicht gegen sie. Dazu gehört unbedingtes Handeln, aber auch, dass wir viel mehr über den größten Lebensraum der Erde wissen müssen, um ihn effektiv zu schützen und nachhaltig zu nutzen. Deshalb gilt es in dieser Dekade vor allem, Kompetenzen und Wissen zu einem breiten Querschnitt zusammenzuführen. Neben der klassischen Meeresforschung sind dabei auch andere Disziplinen gefragt, zum Beispiel die Politikwissenschaft, Soziologie oder die Ökonomie, wenn es um Fragen der nachhaltigen Entwicklung geht.
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Die Meeresbiologin und Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts, Antje Boetius.
© Quelle: Kerstin Rolfes/Alfred-Wegener-Institut/dpa
Hören Politik und Gesellschaft zu wenig auf die Forschenden?
Erkenntnis allein genügt jedenfalls nicht. Wir Forschenden haben vielleicht grundlegend verstanden und bewiesen, welche dramatischen Folgen der Plastikmüll für die Meere und seine Bewohner hat. Allein dadurch ist der Müllberg in den Meeren aber noch nicht zurückgegangen. Dafür brauchen wir praktische Lösungen – wie andere Materialien, die die nicht abbaubaren Kunststoffe ersetzen. Auch das ist Forschung, kombiniert mit einem gesellschaftlichen Bewusstsein für den Schutz der Meere, der eigentlich ja auch unser Schutz ist. Daher geht es in der UN-Dekade auch um die Wirkung von Forschung und nicht nur um reinen Erkenntnisgewinn.
Der weitere, unbekannte Planet: der Ozean
Welche Fragen wollen die Forschenden in der UN-Dekade beantworten?
Es gibt sieben zentrale Aufgaben, die alle etwas mit Verbesserung des Umweltzustands und des Wissens zu tun haben. Dabei muss man aber auch verstehen: Wir haben auf der Erde eigentlich noch einen weiteren, unbekannten Planeten, und zwar den Ozean. Wir finden immer noch unbekannte Unterwassergebirge. Außerdem gibt es im Meer Millionen von Lebewesen, die noch zu entdecken sind. Eine große Aufgabe ist es also allein schon herauszufinden, welche Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen wo und wie leben. Das ist keine rein von Neugier getriebene Frage, sondern die Grundlage für den effektiven Schutz von bedrohten Meeresbewohnern. Gleichzeitig erwarten Gesellschaft und Politik von der Wissenschaft auch hier konkrete Vorschläge für den Schutz und die nachhaltige Nutzung.
Es gibt eine Vielzahl von Initiativen, die auf eigene Faust versuchen, etwa Überfischung zu stoppen. Wie können Forschung und Meeresschutzaktivistinnen und -aktivisten besser zusammenarbeiten?
Es passiert schon mehr. Viele gut ausgebildete junge Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen gehen zu Naturschutzorganisationen, um ihr Wissen praktisch anzuwenden. Auch Forschungsergebnisse werden weitergetragen. Ein gutes Beispiel dafür ist Mikroplastik im Meer. Inzwischen wissen wir viel über den Ursprung von winzigstem Plastik und haben es auch in Arktis und Antarktis gefunden, weil es sich auch über die Atmosphäre verbreiten kann. Diese Forschungsleistung ist immens wichtig, wenn es darum geht, die eigene Verantwortung zu erkennen, die schon beim Material beginnt. Wir zeigen beim mangelnden Recycling und giftigen Abwässern immer gerne auf Asien oder Afrika. Doch das Mikroplastik aus der Arktis kommt sehr wohl auch aus Europa. Zum Beispiel wird der Abrieb unserer Autoreifen sowie von Farben und Textilien in die Atmosphäre getragen, regnet über der Arktis ab und gelangt bei der Meereisschmelze in den tiefen Ozean.
„Wir müssen anders denken“
Oft werden Lösungen ohne fundiertes Wissen über das Problem entwickelt.
Genau. So galt das Einsammeln des großen Meeresplastiks aus den Meeren als beste Lösung. Das ist aber gar nicht so einfach. Eine Idee war es, lange Flöße auszusetzen, die den Plastikmüll automatisch einsammeln. Im Pazifischen Ozean gibt es jedoch nicht nur viel Plastikmüll, sondern auch hohe Wellen und Stürme. Im Zweifel gehen dabei Flöße kaputt und es entsteht neuer Müll. Außerdem werden größere Plastikteile schnell von Larven besiedelt, und es wächst Leben darauf. Das Einsammeln würde auch Meeresorganismen töten, zudem kostet das Einsammeln sehr viel Geld und Sprit, das erhöht den CO₂-Fußabdruck. Das zeigt eindrücklich, dass wir anders denken müssen. Müll vermeiden ist besser, als ihn einsammeln müssen.
Wie groß ist die Verantwortung jedes Einzelnen?
Land und Meer hängen direkt miteinander zusammen, und unsere Handlungen haben damit auch direkten Einfluss auf das maritime Ökosystem. Zum Beispiel sollte man nichts am Strand liegen lassen. Weiterer wichtiger Faktor ist unser Nahrungs- und Energieverhalten. Jeder kann sich informieren, woher die Nahrung aus dem Meer kommt, die wir verzehren, und damit zur nachhaltigen Bewirtschaftung der Meere beitragen. Die Ozeane dürfen nicht noch wärmer, saurer und sauerstoffärmer werden. Um das zu verhindern, können wir alle einen Beitrag leisten, indem wir klimafreundlicher leben und unseren CO₂-Abdruck verringern. Wenn alle mitmachen, hat das große Wirkung. Wir müssen nur wissen, dass ein individueller Beitrag nicht ausreicht. Daher ist auch wichtig, sich zu informieren, welche Optionen die zu wählenden Parteien für den Schutz der Meere und des Klimas im Programm haben.
„Es geht um unsere eigene Rettung“
Sind die Meere noch zu retten?
Die Frage ist eher symbolisch. Es geht hier nicht um die Rettung der Meere, sondern um unsere eigene Rettung. Wir sind direkt von den Meeren abhängig. Sie nehmen 93 Prozent der Erderwärmung auf, sind eine wichtige Nahrungsquelle, sie produzieren die Hälfte des Sauerstoffs, den wir atmen. Zerstören wir die Meere weiter, lassen wir zu, dass sie wärmer werden, gefährden wir damit nicht nur viele Arten, sondern auch uns selbst. Extremwetterereignisse werden zunehmen, steigende Meeresspiegel werden über eine Milliarde Menschen vertreiben, von wegbrechenden Nahrungsquellen und Jobs ganz zu schweigen. Es geht also gar nicht um die Frage, sollen wir optimistisch oder pessimistisch sein, sondern darum, was in unserer Reichweite liegt, um für die Meere anstatt gegen sie zu arbeiten.
Prof. Antje Boetius, geboren 1967 in Frankfurt am Main, ist Meeresforscherin und hat an der Universität Hamburg und am kalifornischen Scripps Institution of Oceanography studiert. Sie leitet eine Arbeitsgruppe für Tiefseeökologie und Technologie am Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie und ist Professorin für Geobiologie an der Universität Bremen. Seit November 2017 ist die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Boetius Wissenschaftliche Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts Helmholtz Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven.