Sexuelle Gleichberechtigung: „Niemand hat das Recht, begehrt zu werden“
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Begehren ist nicht rein privat, sondern auch politisch geprägt, sagt die Philosophin Amia Srinivasan.
© Quelle: Markus Spiske/unsplash
Sie haben 2014, direkt nach dem Amoklauf des 22-jährigen Frauenhassers Eliott Rodger in Kalifornien, begonnen, Ihren Essay „The Right to Sex“ zu schreiben. Wie kam es dazu?
Ich war auf eine sehr unangenehme Weise von dem Phänomen Eliott Rodger fasziniert. Unter anderem auch von seinem Manifest, warum er das getan hat – dieser außergewöhnlichen Art männlicher sexueller Anspruchshaltung. In seinem Manifest beschwerte er sich über schwarze Männer, die zu Unrecht sexuellen Zugang zu der weißen Frau hatten, die er verdiene. Viele Feministinnen in der Mainstreampresse sprachen jedoch sehr allgemein vom Incel-Phänomen und darüber, dass keine Frau verpflichtet war, Sex mit Rodger zu haben oder ihn zu begehren. Niemand aber griff sein Argument auf, dass er aus ungerechten Gründen sexuell ausgegrenzt wurde.
Welche Gründe sollten das sein?
In seinem Manifest spricht er darüber, dass er nicht als sexuell attraktiv galt, weil er halb Asiat war. Ich glaube nicht, dass diese Diagnose zutraf. Er war ganz offensichtlich ein sehr schädlicher narzisstischer Mensch, der andere Menschen und insbesondere andere Frauen grundsätzlich nicht respektierte. Niemand hat einerseits das Recht, sexuell begehrt zu werden. Auf der anderen Seite gibt es eine Hierarchie der Erwünschtheit, die manche Menschen ganz oben und manche ganz unten platziert.
Vom Umgang mit romantischer Einsamkeit
Sie haben die Incels erwähnt. Was macht diese Bewegung aus?
Ich betrachte es eher als eine Art subkulturelles Phänomen. Das Interessante am Involuntary Celibacy (unfreiwillig Zöllibatäre, Anm. d. Red.) Project ist, dass es von einer sehr einsamen Frau initiiert wurde, die noch nie in einer Beziehung war. Sie hat in den frühen Tagen des Internets eine Website für andere Menschen wie sie erstellt, die arbeiteten und es schwierig fanden, Leute kennenzulernen. Ihre Mission war es, den Selbstwert und das Selbstvertrauen zu verbessern.
Also wurde die ursprüngliche Idee pervertiert.
Exakt. Erst später wurde der Begriff auf Incel verkürzt. Heute sind die meisten Incels selbst ernannte Incels und Männer. Viele von ihnen bestehen darauf, dass Frauen keine Incels sein können, weil sie niemals sexuell ausgegrenzt werden. Die Ursprungsgeschichte ist sehr wichtig, weil sie zeigt, wie Frauen und Männer mit ihrer romantischen Einsamkeit umgehen. Männer haben oft die gleiche Erfahrung von Einsamkeit wie Frauen, aber sie reagieren sehr unterschiedlich darauf. Derselbe Geist, den man als gekränkten Anspruch bezeichnen könnte, bringt Incels dazu, Immigranten oder People of Color zu hassen und sich auf eine nostalgische Art zu wünschen, zu einer Art goldenen Vergangenheit zurückzukehren.
Ich denke, wir wissen noch nicht wirklich, wie eine zivilisierte Zivilisation aussieht, weil wir keine Zivilisationen hatten, in der Frauen wirklich frei waren.
Apropos „goldene Vergangenheit“: Sie stellen in Ihrem Buch fest, dass „Zivilisation im Patriarchat unmöglich ist“. Was meinen Sie damit?
In der Passage geht es um die berüchtigte Gruppenvergewaltigung der Studentin Jyoti Singh Pandey in Indien. Der Vater eines Freundes sagte damals zu mir: ‚Nun, wie konnte das in Indien passieren? Inder sind doch so zivilisierte Menschen.‘ Ich wusste das einerseits zu schätzen, weil viele Leute natürlich denken, dass das in Indien passiert ist, weil Inder kulturell rückständig sind. Tatsächlich aber kommt es auf der ganzen Welt zu Gruppenvergewaltigungen. Manchmal teilen wir die Welt in zivilisiert und unzivilisiert auf. Aber Vergewaltigung, Gewalt gegen Frauen und Belästigung von Frauen passieren überall. Und wo immer das passiert, verdient es eine Gesellschaft nicht, als zivilisiert bezeichnet zu werden. Ich denke, wir wissen noch nicht wirklich, wie eine zivilisierte Zivilisation aussieht, weil wir keine Zivilisationen hatten, in der Frauen wirklich frei waren.
Begehren ist nicht rein privat, auch politisch
Sie erwähnen mehrfach im Zusammenhang mit Frauen eine „Fickbarkeitsskala“ in Abhängigkeit von Haut- und Haarfarbe, Herkunft und sozialem Rang. Wie determiniert sich diese Skala?
Die Skala variiert stark mit Kultur und Geschichte. In der Geschichte Europas galten Frauen, die dick waren, als schön. Im Moment wird die Schönheitsnorm jedes Jahrzehnt dünner und dünner. Diese Dinge sind kulturell variabel. Was stimmt, ist, dass die meisten Kulturen in der Geschichte eine Hierarchie haben, wer als am begehrenswertesten angesehen wird oder wer eben nicht.
Eine andere Sichtweise wäre: Mit welchen Personen könnte ich in Verbindung gebracht werden, damit mein Status steigt? Es gibt einige Menschen, die einen hohen Status haben. Wir begehren also oft nicht nur die Person selbst. Wir begehren die Person, weil sie als eine Art Statussymbol fungiert. Gleichzeitig lösen sich diese Dinge manchmal auf, sodass wir uns von jemandem sehr angezogen fühlen, der uns keinen sozialen Status verleiht. Ich interessiere mich für genau diese Momente, in denen unsere Wünsche und unsere politische Konditionierung auseinanderfallen.
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Zur Person: Amia Srinivasan wurde am 20. Dezember 1984 in Bahrain geboren und wuchs als Tochter indischer Eltern in New York auf. Sie studierte in Yale und promovierte in Philosophie am Corpus Christi College in Oxford. Am 1. Januar 2020 wurde sie als erste Frau und jüngste Professorin auf den renommierten Chichele-Lehrstuhl in Oxford berufen, den früher Isiah Berlin innehatte. Ihr Buch „Das Recht auf Sex“ gilt als spektakuläres Debüt, das weltweit Aufsehen erregte.
© Quelle: Klett-Cotta/Nina Subin
Sie sprechen von einer „Politik des Begehrens“. Was genau verstehen Sie darunter?
Wir denken normalerweise, dass Verlangen etwas sehr Persönliches ist. Tatsächlich aber ist privates und persönliches Begehren auch politisch geprägt. Die Form des Verlangens einer bestimmten Person wird zwar bis zu einem gewissen Grad spezifisch für sie sein, aber sie ist auch von den politischen Umständen geprägt, unter denen sie aufgewachsen ist. Rassismus etwa ist eine politische Struktur, die das Verlangen formt. Am deutlichsten zeigt sich das bei Dating-Apps. Dort sagen Leute explizit, dass sie etwa nicht an schwarzen Frauen oder asiatischen Männern interessiert sind. Sie können sehen, wie User andere User herausfiltern.
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© Quelle: Lea Drabent/RND
Sie verweisen auf das eindrucksvolle Beispiel der Dating-App Grindr, die hauptsächlich von schwulen, bi- und transsexuellen Männern genutzt wird.
Es gibt eine Minidokumentation, in der ein ostasiatischer Mann und ein weißer Mann ihre Profile wechseln. Der Asiate, der das Konto des Weißen benutzt, ist überwältigt von der Fülle an Aufmerksamkeit, die er bekommt. Und der Weiße, der das Profil des Asiaten verwendet, ist schockiert, dass die einzigen Leute, die sich für ihn interessieren, ihn als Asiaten fetischisieren. Plötzlich wird ihnen klar, wie rassistisch, wie politisch diese vermeintlich sehr private und persönliche Sache der sexuellen Erwünschtheit ist.
Die Form des Verlangens einer bestimmten Person wird zwar bis zu einem gewissen Grad spezifisch für sie sein, aber sie ist auch von den politischen Umständen geprägt, unter denen sie aufgewachsen ist.
Verbot von Pornos ist nicht zielführend
Kann man sein Verlangen denn ändern?
Ich denke, dass Verlangen nichts ganz Freiwilliges ist. Es ist sehr tief in uns. Wir können nicht einfach mit den Fingern schnipsen und verändern, wen oder was wir begehren. Unsere Wünsche sind aber auch nicht in Stein gemeißelt. Wir können unser Verlangen ausweiten und uns in eine überraschende Richtung führt lassen – ganz unabhängig vom Sexuellen. Manchmal möchten Sie zum Beispiel mit jemandem befreundet sein, der eine ganz andere politische Überzeugung oder eine ganz andere Persönlichkeit hat. Aus irgendeinem Grund haben Sie sich einfach zu dieser Person hingezogen gefühlt. Ein bekanntes Phänomen sind auch schwule und lesbische Menschen, die oft mit einem Gefühl der Stigmatisierung von Homosexualität aufwachsen. Historisch gesehen haben sie, als sie jung waren, von sich selbst gedacht, sie könnten sich etwa als Mann nicht zu Männern hingezogen fühlen, fühlten sich aber dennoch angezogen. An dieser Stelle gibt es eine Spannung. Ihr Verlangen drängt sie in die eine Richtung, aber die Politik drängt sie in die andere Richtung. Die Frage ist, wie wir die politischen Kräfte beruhigen, die uns sagen, was wir wollen, was wir nicht wollen, und stattdessen einfach das Verlangen für sich selbst sprechen lassen?
Sie haben dem Thema Pornografie ein ganzes Kapitel gewidmet. Warum spielen aus feministischer und erzieherischer Sicht Mainstreampornos heute so eine große Rolle?
Was mich am meisten an Mainstreampornos stört, ist, dass sie sehr langweilig sind. Sie sind nicht kreativ. Es wird nur immer und immer wieder dasselbe gesagt. Und dabei suggeriert das Internet die Eröffnung von Möglichkeiten. Stattdessen läuft es in diesen Pornos darauf hinaus, dass alle in Bezug auf ihr sexuelles Verlangen oder ihre Homogenisierung irgendwie gleich sind. Daher fällt es mir schwer zu glauben, dass Mainstreampornos eine Rolle bei der Entwicklung sexueller Freiheit oder sexueller Entscheidungsfreiheit spielen können.
Sollte man Pornos dann verbieten?
Ich bin entschieden gegen feministische Vorstöße, Gesetze gegen Pornografie zu erlassen mit dem Ziel, diese zu verbieten. Zunächst einmal ist dies fast unmöglich, wenn wir über das Internet sprechen. Außerdem werden diese Gesetze sehr oft gegen die Leute eingesetzt, die tatsächlich die interessanteste feministische Queerpornografie erstellen. Diese Gesetze schaden zudem sehr oft den Frauen in der Pornografie, die einfach versuchen, Geld zu verdienen, um sich selbst und ihre Kinder zu ernähren. Wir sollten besser über alternative Wege im Umgang mit Pornografie nachdenken. Gespräche mit jungen Leuten über den Unterschied zwischen Sex, wie er wirklich ist, und Sex, wie er auf dem Bildschirm dargestellt wird, zu führen ist wirklich wichtig.
Gespräche mit jungen Leuten über den Unterschied zwischen Sex, wie er wirklich ist, und Sex, wie er auf dem Bildschirm dargestellt wird, zu führen ist wirklich wichtig.
Als Alternative haben Sie feministische Pornos erwähnt. Wie stark ist der Einfluss dieser Art von Pornos schon? In den meisten Fällen sind diese kostenpflichtig.
Nach der industriellen Revolution war es den Menschen egal, woher ihr Essen kam. Sie kauften einfach das billigste Huhn oder die billigsten Eier. Heute wird viel mehr darüber nachgedacht, woher das Essen kommt, wie Tiere behandelt werden und ob die Leute dafür gut genug bezahlt werden. Man könnte sich also schon vorstellen, dass Menschen auch mehr darüber nachdenken, was es bedeutet, Pornografie auf ethische Weise zu konsumieren, genauso, wie sie darüber nachdenken, was es bedeutet, Lebensmittel auf ethische Weise zu konsumieren.
Harte Strafen sind kontraproduktiv
Sie blicken grundsätzlich sehr kritisch auf karzerale Ansätze, also härtere staatliche Sanktionen, als Antwort auf Geschlechterungerechtigkeit. Was ist an diesem Ansatz schwierig?
Das Problem des karzeralen Feminismus ist, dass er in erster Linie auf die Zwangsgewalt des Staates schaut, um Probleme sexuell verursachter Ungerechtigkeit zu lösen. Das ist sehr intuitiv und auch verständlich. Es ist eine sehr befriedigende Art zu reagieren, aber es funktioniert oft nicht. Im Gegenteil: Es macht die Dinge oft schlimmer, besonders für Frauen.
Inwiefern?
Ein Beispiel dafür ist häusliche Gewalt. Frauen erleiden vor allem häusliche Gewalt durch ihre männlichen Partner, sind aber gleichzeitig oft sehr arm. Sie werden daher zögern, die Polizei zu rufen, wenn sie wissen, dass ihre Ehemänner ins Gefängnis kommen. Wer wird die Rechnungen bezahlen? Wie sollen sie sie ihre Kinder ernähren? Wenn der Ehemann aus dem Gefängnis nach Hause kommt, wird er wütend sein und sie noch mehr schlagen. Wenn Frauen aber arm sind, können sie es sich nicht leisten zu gehen. Daher müssen wir uns überlegen, welche Art von wirtschaftlichem Schutz wir schaffen können, damit Frauen, die unter Gewalt leiden, es sich leisten können, ihre Häuser zu verlassen, ihre Kinder mitzunehmen und sich in Sicherheit zu bringen.
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Buchdaten: Das Recht auf Sex – Feminismus im 21. Jahrhundert. Amia Srinivasan, Klett-Cotta-Verlag, 320 Seiten, 24 Euro.
© Quelle: Klett-Cotta
Welche wirtschaftlichen Arrangements könnten das sein?
Ein bedingungsloses Grundeinkommen zum Beispiel, ein universelle Wohnraumversorgung und Kinderbetreuung. Dann wäre keine Frau abhängig vom Lohn ihres Mannes. Wenn eine Frau all das hätte, könnte sie gehen und ihre Kinder mitnehmen. Das sind allesamt Dinge, die man einführt, wenn einem die Sicherheit von Frauen wirklich am Herzen liegt.
Carearbeit als kollektive Aufgabe
Was könnten die Männer selbst zur Verbesserung der Lebenssituation von Frauen beitragen?
Das vielleicht Radikalste, das Männer tun könnten, ist, der Arbeit nachzugehen, die traditionell als Frauenarbeit angesehen wird: Kinderbetreuung, Krankenpflege, Altenpflege, Hausputz, Hauswirtschaft. Was wäre, wenn Männer die gleiche Verantwortung dafür übernehmen würden? Wie sähe unsere Politik aus, wenn wir Carearbeit mitdenken? Die Arbeit ist die wichtigste, die wir verrichten. Folglich müsste sie als kollektive Aufgabe betrachtet werden, der gleichermaßen von Frauen und Männern nachgekommen werden muss. Das wäre eine transformative Politik.
Wie lange wird diese Transformation dauern, oder ist sie am Ende nur eine schöne Utopie?
Grundsätzlich ist alles möglich. Pessimistisch gesehen frage ich mich, ob die Klimakrise uns erwischen wird, bevor wir die Chance dazu haben, etwas zu verändern. Es sind die armen Frauen der Welt, die am stärksten von der Klimakrise betroffen sind. Sie fordern uns seit sehr langer Zeit auf, das Thema Klimawandel ernst zu nehmen und darauf zu reagieren. In Bezug auf die politische Ausrichtung bleibe ich hoffnungsvoll, weil ich es sein muss.